Der verwaiste Thron 02 - Verrat
schreckte vor der Antwort zurück, die er sich selbst geben musste.
»Dieser eine Augenblick«, sagte er nach einer Weile. Er sah Syrah vor sich, sah, wie der Hass in ihren Augen brannte, und spürte seinen eigenen Triumph. »Alles für diesen einen Augenblick.«
»Du hast Oso nicht getötet.« Mellies Stimme war dicht neben ihm. Er hatte nicht bemerkt, dass sie zu ihm gekommen war. »Das war Cascyr. Er hat ihm den Bauch aufgerissen, und eines Tages, wenn wir uns klug und bedächtig verhalten, wirst du Cascyr dafür bestrafen. Das willst du doch, oder?«
Craymorus schwieg. Unten auf dem Hof rollten Sklaven eine weiße Stoffbahn aus, die von der Treppe bis zur Sänfte führte. Cascyr schritt darüber, flankiert von vier Gardisten. Der Saum seiner bodenlangen weißen Robe war schwarz von Blut oder Dreck. Die Sklaven schoben den Vorhang der Sänfte zur Seite und knieten nieder, aber Cascyr blieb stehen. Craymorus zuckte unwillkürlich zurück, als der Blick des Königs auf ihn fiel.
Cascyr sah ihn an. Sein Gesicht war reglos. Nach einem Moment hob er den Arm, legte den Zeigefinger auf seine Brust und zog ihn in einer geraden Bewegung von seinem Brustbein über den Bauch bis zum Unterleib. Dann wandte er sich ab und stieg über den Rücken eines Sklaven in seine Sänfte.
»Was soll das?«, flüsterte Mellie. Sie war in die Schatten hinter dem Fenster zurückgewichen, hatte Cascyrs Geste nicht gesehen. »Wieso reist er ab?«
»Weil er nicht weiß, dass du hier bist.« Craymorus sah Cascyr nach, während sich die Sänfte schloss und sich der Tross in Bewegung setzte. »Und er darf es niemals erfahren.«
Seine Hand strich über ihre Wange. Er spürte die Berührung kaum, so voller Schwielen waren seine Finger. Mellie nahm seine Hand in die ihre und massierte sie langsam. »Wenn du Fürst bist, kann er in Erfahrung bringen, was er will.«
Glaubst du das wirklich? , fragte sich Craymorus. Sein Blick fiel auf einen Baum außerhalb der Mauern, dort, wo die fürstlichen Gärten lagen. Man hatte ihn gestutzt, hatte die Triebe an den Seiten des Stammes entfernt, bis dem Baum nichts anderes blieb, als nach oben zu wachsen. Starr und gerade ragte er in den Himmel.
So wie wir , dachte Craymorus. Der Weg, den sie zu bestreiten hatten, war unausweichlich. Syrah würde es nicht wagen, ihn zu töten, solange er die einzige Verbindung zu ihrer Tochter darstellte. Und sie würde auch die Hochzeit nicht absagen, denn Westfall brauchte nach der Niederlage gegen die Nachtschatten einen Fürsten, dem das Volk vertraute, und aus irgendeinem Grund schien Craymorus diesen Anspruch zu erfüllen. Doch damit war nur sein Leben gerettet, nicht aber Mellies. Syrah musste wissen, dass er nicht allein gehandelt hatte. Wenn sie Mellie entdeckte … Craymorus dachte an Oso. Seine Knie begannen zu zittern.
Was soll ich nur tun? , dachte er.
Draußen vor dem Fenster wurde das Tor geschlossen.
Kapitel 12
In fast jedem Dorf in den Wäldern von Frakknor finden sich jede Menge Jäger und Gerber. Der Reisende kann gute Geschäfte mit ihnen tätigen, wenn ihm der Sinn danach steht, doch sollte er Vorsicht walten lassen, denn allzu oft wird er jenseits des Dorfs seine Waren an die verlieren, die einen ganz anderen Beruf ausüben als Jäger oder Gerber.
Jonaddyn Flerr, Die Fürstentümer und Provinzen der vier Königreiche, Band 2
Sie gingen auf die Jagd.
Jeden Morgen, wenn Schwarzklaue erwachte, sah er die Schatten der Krieger über seine Zeltwände huschen, hörte ihre Stimmen und das Klirren der Waffen. Sie sprachen über die Fährten, die sie am Tag zuvor aufgenommen hatten, über Wildschweinrotten, Rehe und Hirsche. Über den Feind und den Krieg sprachen sie nur noch selten.
Und jeden Morgen wurden die Stimmen weniger. Er schätzte, dass mehr als fünfzig Krieger das Lager bereits verlassen hatten. Wohin sie verschwunden waren, wusste er nicht.
Ich hätte Korvellan nicht gehen lassen dürfen , dachte er, als er den Zelteingang zurückschlug und in die Morgensonne trat. In der Nacht zuvor hatte es endlich aufgehört zu regnen. Der Himmel war klar und blau. Nur zwischen den Bäumen hingen noch Nebelschwaden, die der Sonne langsam entgegenstiegen und sich auflösten.
»Begleitest du uns?«
Schwarzklaue sah zur Seite. Sommerwind hockte auf einem Baumstumpf und aß ein Stück Fleisch. Neben ihr auf einem Seerosenblatt lag ein gegrilltes Schweineohr. Sie brachte ihm jeden Morgen etwas zu essen, obwohl er seit Korvellans Abreise nicht
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