Der verwaiste Thron 02 - Verrat
drei oder vier gingen aufrecht. Die Nase in der Luft, den Körper gestreckt, die Augen nach vorn gerichtet. So und nicht anders jagte ein Nachtschatten. Wer das nicht verstand, hatte nie wirklich gejagt.
Schwarzklaue sah, wie Bäume und Farne an ihm vorbeizogen. Er hörte das Atmen der Nachtschatten, das Knacken, mit dem Zweige unter ihren Klauen zerbrachen, das Knistern der Blätter, die ihre Körper streiften. Sie bewegten sich beinahe lautlos, Geister, zu dunkel für das Sonnenlicht, zu hell für die Schatten. Schwarzklaue hätte beinahe gelacht. Sogar der Wald wollte sie nicht.
Er spürte, dass etwas in ihm erwachte. Seine Sinne schärften sich, seine Gedanken wurden klarer, einfacher, sahen nur noch den Augenblick: einen Käfer in der Baumrinde, eine Blüte, die unter seiner Klaue zerdrückt wurde, einen Tautropfen, der an der Spitze eines Blatts hing.
Hinter Schwarzklaue brüllte ein Nachtschatten, dann ein anderer. Er grinste. Auch in ihnen erwachte es. Einige hatten vielleicht vergessen, was es bedeutete, ein Nachtschatten zu sein. Die Jagd brachte die Erinnerung zurück. Dafür lohnte es sich, einen Bären mit ihnen zu teilen.
Der Geruch traf ihn unerwartet, brachte seine Gedanken abrupt zum Stehen und versteifte seine Muskeln. Es war ein scharfer, stechender Gestank, so als habe man Pfeffer anbrennen lassen. Sie rochen stets so, egal, wo man sie antraf, egal, wie sie aussahen.
»Menschen«, sagte Schwarzklaue.
»Ein Mensch«, sagte Wolkenauge.
Niemand widersprach ihm. Die anderen Nachtschatten drängten sich um ihn. »Wo?«, fragte die Frau, die bereits Schwarzklaue angesprochen hatte.
»Keinen Steinwurf entfernt, Richtung Osten.« Wolkenauge stand auf und zog sein Schwert. Waffen klirrten, als die anderen seinem Beispiel folgten. Schwarzklaue blieb auf allen vieren, ebenso die Frau, wie er aus den Augenwinkeln sah. Sie war unbewaffnet und trug keine Rüstung.
Sie musste seinen Blick bemerkt haben, denn sie drehte den Kopf und grinste. »Auch im Süden versteht man zu jagen.«
»Wir werden sehen«, sagte er. Langsam ging er vor. Einige Schritte entfernt lichtete sich der Wald. Dahinter lag ein Weg, breit genug für eine Kutsche, aber zu schmal für eine der Handelsstraßen, die überall am Großen Fluss entlangführten. Wahrscheinlich verband er zwei Dörfer miteinander.
Schwarzklaue atmete den Geruch des Menschen ein. Er roch keine Furcht, also hatte er sie wohl noch nicht bemerkt. Er wollte weitergehen, aber Wolkenauge schüttelte den Kopf. »Etwas ist merkwürdig«, sagte er.
»Was?«
»Ich weiß es nicht. Etwas …« Wolkenauge kratzte sich am Hals. »Das ist wie beim Kochen. Etwas fehlt, aber ich kann dir nicht sagen, was. Gib mir etwas mehr Zeit.«
Schwarzklaue richtete sich auf. Er spürte, dass die Frau aus dem Süden ihn beobachtete. »Wenn ich seinen Kopf in der Hand halte, kannst du so viel an ihm riechen, wie du willst.« Zufrieden bemerkte er ihr Lächeln. »Aber dafür muss ich ihn erst einmal umbringen.«
Mit drei langen Schritten erreichte er den Weg. Die anderen folgten ihm. Fast alle hatten ihre Waffen gezogen. Schwarzklaue trat aus den Bäumen heraus und sah sich um. Der Weg durchschnitt den Wald wie eine Schwertklinge. Weder im Norden noch im Süden war sein Ende zu erkennen.
Der Mensch saß auf einigen Baumstämmen, die man am Wegesrand aufgeschichtet hatte, und eine halb verrostete Axt steckte in einem der Stämme. Die meisten Menschen waren geflohen, als sie von der Landung der Nachtschatten erfahren hatten.
Der Mann, der Schwarzklaue den Rücken zudrehte, war der erste, den er seit seiner Ankunft sah.
»Willst du meinen Namen wissen, damit du ihn deinem Gott entgegenschreien kannst, wenn er dich nach deinem Mörder fragt?«, fragte Schwarzklaue.
»Ich glaube nicht, dass es dazu kommen wird.«
Der Mann stand auf, sprang von den Baumstämmen und drehte sich um. Er war jung – Schwarzklaue blinzelte –, er war alt.
Auch das stimmte nicht. Das Gesicht des Menschen schien vor seinen Augen zu verschwimmen, so wie ein Fisch, den man durch die zugefrorene Oberfläche eines Sees betrachten wollte.
Der Mann lächelte. Es war ein freundliches, offenes Lächeln, das wusste Schwarzklaue, obwohl er es nicht genau sehen konnte. Er drehte kurz den Kopf, als die anderen Nachtschatten aus dem Wald hervorkamen. Sie hatten die Waffen erhoben.
Der Mann breitete die Arme aus. Er trug einen langen schwarzen Mantel, den er mit einem Strick zusammengebunden hatte, und war barfuß.
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