Der verwaiste Thron 02 - Verrat
zu gehen, wusste sie nicht. Sie spürte, dass Erys ihr folgte, und beide erreichten sie nach wenigen Schritten die breitete Gasse, auf der Ana den mit Fellen beladene Karren gesehen hatte.
Der Karren war nicht weit gekommen. Der Fahrer stand auf dem Kutschbock und sah die breitere, abschüssige Gasse hinab.
»Was ist denn los?«, rief Erys und zog sich das Tuch nach unten.
Der Fahrer auf dem Karren drehte sich um. »Da unten brennt's.«
Ana hatte den Karren erreicht, stellte einen Fuß auf das Wagenrad und zog sich an den Fellen hoch. Weit unten, in dem Chaos aus Hütten und Gassen, dort, wo die Stadt endete und der tiefschwarze Wald begann, lag ein Flackern über dem Land. Orange und rot mischte sich in das Grau des Mondlichts.
»Dort hinten auch!«, rief eine Frau vom Dach einer Hütte.
Ana sah ein zweites Flackern, dann ein drittes und viertes. Ihr wurde kalt. Zitternd sprang sie auf den Boden, packte Erys am Arm und zog sie in den Spalt, aus dem sie gekommen waren.
»Sie sind da«, sagte sie, bevor Erys reagieren konnte. »Die Nachtschatten sind da.«
Kapitel 19
Das Streben nach Vollkommenheit ist die größte Last, die Westfall sich aufgebürdet hat. Beinahe zwangsläufig blickt man dort auf jeden herab, der sich keinem ähnlich sinnlosen Unterfangen verschrieben hat.
Jonaddyn Flerr, Die Fürstentümer und Provinzen der vier Königreiche, Band 1
Der Tempel der reinen Ehrfurcht, so hatte man Craymorus erzählt, war vor vielen Jahrhunderten auf den Fundamenten einer vergangenen Ruine errichtet worden. Er suchte nach Hinweisen darauf, als er ihm am Morgen seiner Hochzeit, nur wenige Tage nach ihrer Ankündigung, in seiner Sänfte entgegengetragen wurde. Seine Blicke glitten über weiße Säulen, an denen Wasser in Rinnsalen herablief, ein geschwungenes blaues Dach in Form einer Welle und den Statuen der Flussgeister, die aus grünen Hecken neben winzigen Flüssen hervorstarrten. Das Wasser, das aus Springbrunnen auf sie herabfiel, hatte ihre Gesichter glatt gewaschen. Ein kompliziertes System aus Holzrinnen, Rädern und Eimern beförderte das Wasser durch die gesamte Tempelanlage. Überall plätscherte, tropfte und rauschte es. Fahnen flatterten im Wind, nicht die blauen Westfalls, sondern die leeren weißen Flaggen der Flussgötter. Das Wissen um ihre Namen und ihre Farben war längst in Vergessenheit geraten. Zu den Vergangenen sollten sie noch persönlich gesprochen haben, eine Ehre, die kein Mensch je erhalten hatte.
Die offene Sänfte wurde durch das Tor ins Tempelinnere getragen. Sonnenlicht fiel durch Zwischenräume und Fenster, brach sich in bunt gefärbten Spiegeln, die sich im Wind drehten. Die Wellenmuster an den Wänden schienen in ihrem Licht zu fließen so wie das Wasser. Alles war in Bewegung. Nichts stand jemals still. Der Tempel war eine Einladung an die Flussgötter, aber Craymorus glaubte nicht, dass die sie annehmen würden.
Wir sind nicht vollkommen genug , dachte er.
Sein Blick fiel auf die Priester, die sich in ihren langen weißen Roben durch die Gruppen von Hochzeitsgästen bewegten. Sie waren jung und makellos. Er sah keine Narben, keine fehlenden Zähne, keine kahlen Stellen auf ihren Köpfen. Es gab keine Hinkenden, keine Buckligen, keine Blinden oder Einäugigen.
Vorsichtig wie ein Priester , so sagte man in Westfall, denn ein Priester, der seine Makellosigkeit durch Verletzung, Krankheit oder Alter verlor, durfte den Tempel nie wieder betreten. Unvollkommenheit ist den Göttern ein Graus. Auch das sagte man.
Die Sänfte hielt in einem riesigen Innenhof an. Craymorus blickte auf große hölzerne Türen, die zum Gebetsraum führten, dorthin, wo seine Heirat stattfinden sollte.
»Mylord?« Ein Priester blieb neben seiner Sänfte stehen und neigte den Kopf. Sein dichtes blondes Haar war kurz geschnitten, sein Gesicht beinahe so glatt wie das der Statuen unter den Springbrunnen. Er hatte graue Augen und helle, makellose Haut. In den Händen hielt er eine Decke, die er in die Sänfte reichte.
»Wenn Ihr so gütig wäret, Eure Beine zu bedecken und mir Eure Krücken zu reichen?«
»Warum?«
»Euer …« Der Priester zögerte. »Euer … Makel soll den Göttern verborgen bleiben, damit sie Eure Verbindung segnen und dem Land Glück schenken.«
»Ich verstehe.« Craymorus nahm die Decke und breitete sie über seinen Beinen aus. Dann reichte er die Krücken hinaus. Der Priester nahm sie mit einer Verbeugung an sich. »Ihr erhaltet sie nach der Zeremonie
Weitere Kostenlose Bücher