Der vierte Mörder: Klemens Raupachs erster Fall (German Edition)
Schwerkraft schien aufgehoben.
Als sich die Sekunden wieder zu Minuten dehnten, hatte Valerie zum ersten Mal in ihrem Leben das Gefühl, dass der richtige Mann auf ihr lag. In einem heruntergekommenen Zimmer, das von der Abrissbirne bedroht war. Er küsste sie auf eine Stelle ihres Gesichts, die nicht wehtat, und setzte sich auf.
Sie hatten noch drei Tage. Warum nur drei?
Johan riss eine Seite aus seinem Notizbuch. Er begann einen neuen Brief.
21. Dezember
»Lübben wurde das Genick zweimal gebrochen.« Clausing referierte vor der Sonderkommission. Er musste selten derartige Auftritte absolvieren und war entsprechend nervös. »Es gibt unterschiedliche Druckstellen. Würgemale, wenn man so will. Ich würde es eher als Griffe bezeichnen, wie beim Ringen.«
»Und nach wie vor keine identifizierbaren Fingerabdrücke?«, griff Heide vor.
»Leider nicht.«
»Wie ist Lübben gestorben?«, fragte Raupach.
»Der erste Griff hat den zweiten und dritten Halswirbel aus der Position gedrückt. Das machte Lübben bewegungsunfähig, vielleicht bewusstlos durch den traumatischen Schock. So konnte der Täter den Eindruck gewinnen, dass Lübben tot war. Aber der Wirbelkanal, der das Rückenmark enthält, war nicht beschädigt.«
»Und weiter?« Heide betrachtete die Schautafel, die Clausing zur Erläuterung mitgebracht und an ein Flipchart geklemmt hatte. Die Wirbelsäule war ein seltsam archaischer Teil des Körpers. Sie sah aus wie das Skelett eines Reptils.
»Nach ungefähr einer halben Stunde wurde ein ähnlicher Griff angewendet, allerdings in Gegenrichtung. Man muss das Kinn und den Nacken fixieren und den Kopf mit großem Kraftaufwand herumreißen. Die läsierten Wirbel brachen, Rückenmark trat aus. Das hat Lübben endgültig den Hals gebrochen. Es ist schwer nachzuvollziehen, aber offenbar wollte jemand ganz sichergehen.«
Clausing wies auf die Schautafel, um seine Diagnose zu veranschaulichen. »Aufgrund der Druckstellen denke ich, dass wir es mit zwei Tätern zu tun haben.«
»Schon der erste hatte eine klare Tötungsabsicht«, sagte Raupach. »Der zweite machte dem Ganzen ein Ende.«
»Richtig.«
»Und wo passierte es?«
»Schwer zu sagen«, erwiderte Clausing. »Lübben lag auf jeden Fall mehrere Tage in dem abgebrannten Lieferwagen. Die Rippen der Ladefläche haben Abdrücke hinterlassen.«
»Keine DNS-Spuren, abgesehen von dem Blut eines Unbekannten? Fremde Haare, Hautzellen?«
»Das stellte Professor Wassenhoven bereits zweifelsfrei fest.« Clausing räusperte sich. »Aber ich habe das Scheidensekret des Mädchens, mit dem Lübben kurz vor seinem Tod Verkehr hatte, mit einer DNS-Probe von Sheila Braq verglichen. Diese Probe haben wir erst seit einigen Tagen.« Er nickte Effie Bongartz zu. »Die genetische Signatur stimmt überein.«
»Wie wir befürchtet haben«, sagte Raupach ohne jedes Triumphgefühl. »Lübben hat Sheila missbraucht.«
»Wie Aalund«, sagte Photini.
»Aber wer hat Lübben umgebracht?«, fragte Heide. »Die anderen beiden, Materlink und Tiedke?«
»Sei nicht albern«, sagte Raupach. »Die hatten nicht die körperlichen Voraussetzungen. Johan Land auch nicht.«
»Wahnsinn vervielfacht die Kräfte.«
»Aber er liefert uns kein Motiv.«
»Vielleicht wollte Land Sheila helfen?«, mutmaßte Heide.
»Das hatte der Täter mit Sicherheit vor. Er beschützte Sheila. Deshalb müssen wir vor allem in ihrem Umfeld suchen.«
»Um den ersten Täter zu finden«, sagte Photini. »Erinnerst du dich an die Eisbahn, Klemens? Die Jungen, die damals mit Sheila zusammen gewesen waren?«
»Von denen hat sich noch keiner gemeldet.«
»Der Große könnte kräftig genug sein. Mio, war das sein Name?«
»Ja, ich glaube schon.«
»Hat er schon eine Aussage gemacht?«
Raupach zog den Ordner mit den Vernehmungsprotokollen zu Rate und überflog die Namensliste. »Nein. Aber vielleicht ist Mio nur ein Spitzname.«
»Das klären wir noch«, sagte Photini. Dann ging sie zu dem Flipchart und schlug das Blatt mit der Wirbelsäulendarstellung um. Sie zog einen senkrechten Strich aufs weiße Papier und schrieb »Hilfe« in die linke Spalte. »Welches Motiv hatte der zweite Täter?« Sie drehte sich wieder um. »Das gleiche wie der erste?«
»Es gibt viele Auffassungen von Gerechtigkeit«, sagte Raupach. »Einen Vergewaltiger zu bestrafen gehört sicher dazu.«
»Und es gibt viele Gründe für einen Mord.« Heide klang nicht überzeugt. »Manche Leute finden einfach Gefallen daran. Sie fangen durch
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