Der vierte Mörder: Klemens Raupachs erster Fall (German Edition)
gewundert.«
»Worüber?«
»Dass dieses Mädchen, das überall gesucht wird, vergewaltigt wurde. Davon kam nichts in den Nachrichten.«
»Weil es besser für sie ist, wenn wir es geheim halten.«
»Müssen Sie das nicht veröffentlichen?«
»Nicht, wenn’s der Wahrheitsfindung dient.«
Mio schwieg betreten und starrte den Kommissar von unten herauf an, als wollte er herausfinden, worauf dieses Verhör hinauslief. Raupach war erleichtert. Die Reaktion des Jungen ließ erahnen, dass er mit den Vergewaltigungen nichts zu tun hatte.
»Du warst mit ihr am 30. November zusammen«, fuhr Raupach fort. »Auf der Eisbahn. Meine Kollegin Photini Dirou und ich können das bezeugen. Hör einfach auf, es zu leugnen. Sheila ist vor einer Woche verschwunden. Wir wissen weder, wo sie sich befindet, noch, was ihr passiert ist. Du bist der Einzige, der uns helfen kann.« Er hielt inne. »Willst du das tun?«
Mio dachte nach. »Wie denn?«
»Wart ihr öfter zusammen unterwegs?«
»Nein.«
»Hast du sie in letzter Zeit gesehen?«, wiederholte Raupach.
»Nein.«
»Hat sie ein Versteck, von dem nur ein paar Freunde etwas wissen?«
»Ein Versteck? Nicht, dass ich wüsste.« Mio erstarrte. Es war ihm so herausgerutscht.
»Also bist du einer ihrer Freunde?«
»Verdammt!«
»Hier geht es nicht um deine Haut, sondern um Sheilas. Wir suchen nach einer Person, bei der sich Sheila vielleicht aufhält. Zu der sie Vertrauen gefasst hat. Fällt dir dazu etwas ein?«
»Nein!«
»Warum willst du es nicht sagen?«
Mio schaute aus dem Fenster.
»Wenn du dich selber schützen willst, bringst du Sheila in Gefahr.«
Mio zuckte mit den Schultern. »Meinen Sie, ich bin bescheuert?«
»Ganz im Gegenteil.«
»Ich sage gar nichts.«
»Ist es das wert?«
»Ich will jetzt gehen.«
»Das kann ich nicht zulassen.«
»Wie lange wollen Sie mich festhalten?«
»Bis du die Wahrheit sagst.«
Mio drehte die Augen zur Decke.
»Mit sechzehn solltest du alt genug dafür sein.«
Raupach verließ den Vernehmungsraum. »Bleib sitzen«, rief er Mio zu und schloss die Tür. Er wartete einige Minuten und besprach sich mit Photini. Dann ließ er den Jungen in eine Zelle bringen.
Nach einer Stunde versuchte es Raupach erneut. Er vermied weitere Anspielungen auf die Diebstähle. Noch war es zu früh, Mio in die Enge zu treiben. Er übte sich in Geduld.
Es bereitete Mio wenig Probleme, jegliche Bekanntschaft mit Sheila abzustreiten und bis zum Abend dichtzuhalten. Wenn er sich in Widersprüche verstrickte, ärgerte er sich zwar, schlug Raupachs logische Schlussfolgerungen aber in den Wind. Seine Selbstsicherheit war aufreizend, weil sie keine erkennbare Grundlage besaß.
Woher kam diese Dreistigkeit?, fragte sich Raupach. Glaubte er, beliebig oft im Leben die »Reset«-Taste drücken zu können, wie bei einem Videospiel? Mios Willenskraft war nicht ungewöhnlich für einen Jungen in seinem Alter, zumal er auf eine Vernehmung vorbereitet zu sein schien und genau wusste, dass die Polizei Beweise brauchte und keine Vermutungen, so schlüssig sie auch waren.
Raupach kam nicht an ihn heran, Mio blockte ihn ab. Vielleicht würde eine Nacht hinter Gittern daran etwas ändern.
»Schlaf gut«, sagte Raupach. Zwei Kollegen führten den Jungen ab. Er grinste.
»Hey!«
Mio drehte sich um.
»Denk an Sheila«, sagte Raupach. »Falls sie noch am Leben ist.«
22. Dezember
Alle Zeitungen druckten es ab. Es war der letzte Aufreger vor den Feiertagen, gerade richtig, um die Leute mit einer gehörigen Portion Unsicherheit in die stille Zeit zu schicken. Denkt bloß nicht, Weihnachten gewähre euch Schutz. Der Feuerteufel ist unter uns. Er wartet nur darauf zuzuschlagen. »Köln in Flammen!« – »Morgen brennt’s!« – »Er kommt wie ein Dieb in der Nacht.« Lustvoll vermischte die Skandaljournaille, was ihr an Bibelstellen und Gemeinplätzen in den Sinn kam. Wie auf Knopfdruck schien die Panik in der Bevölkerung zurückzukehren. Für Raupach, der gern Zeitung las und ein gemäßigtes überregionales Blatt abonniert hatte, war es ein Indiz manipulativer Macht.
Der Inhalt von Johan Lands neuem Brief passte eigentlich gar nicht zu der unheilvollen Stimmungsmache:
Bis die Glocke sich verkühlet,
Laßt die strenge Arbeit ruhn,
Wie im Laub der Vogel spielet,
Mag sich jeder gütlich tun.
Winkt der Sterne Licht,
Ledig aller Pflicht.
»Er bekommt Skrupel«, sagte Jakub und schneuzte sich, vollgestopft mit Antibiotika.
»Was bedeutet das?« Am vorigen
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