Der vierte Mörder: Klemens Raupachs erster Fall (German Edition)
an dem Tag, an dem Chris Tiedke in der Linie 5 verbrannt war. So war es sogar ausgemacht gewesen: Er sollte Raupach und Heide über weitere Brände auf dem Laufenden halten. Aber Paul hatte nichts von dem Anschlag erzählt. Oder war das im Zuge von Raupachs kurzzeitiger Suspendierung untergegangen?
Laut den Dienstplänen und Berichten der Motorradstaffel war es möglich, dass Paul am Tatort gewesen war. Bei den schlechten Straßenverhältnissen waren so gut wie keine anderen Motorradfahrer unterwegs. Es war nur ein vager Verdacht, gespeist aus Raupachs zunehmenden persönlichen Vorbehalten.
Er konnte Paul einfach danach fragen, bezweifelte jedoch, ob das klug war. Heide hatte in ihrem Auto anders reagiert als erwartet. Plötzlich verteidigte sie Paul. Das mochte an dem Inhalt ihres Flachmanns liegen. An Raupachs zögerlichem Verhalten nach dem Kuss auf dem Parkplatz. Oder sie weigerte sich, eine noch größere Niederlage einzugestehen als die, welche sie schon jetzt kaum verkraften konnte.
Die letzte Sitzung des Gedächtnistrainings musste gerade begonnen haben. Raupach erwog einen Moment lang hinzufahren. Die Versuchung war groß, ein wenig Abstand zu gewinnen. Er brauchte ja nicht lange zu bleiben. Vielleicht gelang es ihm, Katharina in einer Pause abzupassen und ein Treffen mit ihr zu vereinbaren. Aber für wann? Für einen Tag nach Weihnachten? Konnte er davon ausgehen, den Fall bis dahin abgeschlossen zu haben?
Es war vermessen, sein Privatleben zu planen, bevor er nicht wieder Fuß gefasst hatte bei der Polizei. Das genau war der Grund gewesen, aus dem Clarissa sich von ihm getrennt hatte. Er hatte das Leben in der Gegenwart vertagt auf bessere Zeiten in einer ungewissen Zukunft. Doch die besseren Zeiten waren nicht gekommen. Sie waren nicht einmal näher gerückt. Er hatte Akten aus dem Archiv mit nach Hause gebracht und dadurch alles nur noch verschlimmert. Die Zeiten waren schlechter geworden. Clarissa hatte die Hoffnung verloren. Er auch. Als sie ausgezogen war, hatte er nicht einmal ein Abschiedswort für sie gehabt.
Das durfte sich nicht wiederholen. Er brauchte Zeit, wenn das etwas werden sollte mit Katharina oder mit irgendeiner anderen Frau. Diese Zeit hatte er nicht. Nicht jetzt. Sein Dilemma würde weiter bestehen. Weil Raupach Verbrecher fangen musste. Das hatte er einmal sehr gut gekonnt.
Was taten die Verbrecher jetzt? Saßen sie in ihrem Versteck und rieben sich die Hände wie in einem alten Kolportageroman? Was fühlte ein Mörder vor der Tat? Stille Genugtuung? Gespannte Erwartung? War ein nervöses Leuchten in ihm wie bei einem Schauspieler kurz vor dem Auftritt? Welche Gedanken verbanden einen Mörder mit seinem Opfer? Es mussten nicht nur schlechte sein.
Dann traf Photini im Taubenschlag ein. Sie hatte einen jungen Mann dabei. Höttges führte ihn am Arm, als habe er Billy the Kid festgenommen. Höttges war der erste Polizist gewesen, den Photini per Handy erreicht hatte.
»Was wollen Sie?«, hatte Mio vor der Eckkneipe gefragt und seine Pudelmütze aufgesetzt. Da schnappten schon die Handschellen zu. Er wehrte sich, aber Photini war gut in Form. Was sollte sie auch tun, wenn sie abends nach Hause kam und ihre erfolglosen Arbeitstage verfluchte? Ihre Übungen verliehen ihr einen Hauch Gewissheit, das Richtige zu tun.
Ohne Höttges wäre sie in Schwierigkeiten geraten. Mio machte zu viel Lärm. Einer der Männer aus der Billardkneipe kam nach draußen. Höttges nahm schnell die Nickelbrille ab, fragte ihn nach Gunter Aalund und hielt ihm einen Fahndungszettel mit Aalunds Bild unter die Nase. Dabei ließ er mehrmals das Wort »Mordverdacht« fallen. Das und seine Leibesfülle, die gar nicht so selten für Muskelmasse gehalten wurde, erzielten Wirkung, bis ein Streifenwagen eintraf.
Raupach erkannte den Jungen und nickte stumm. Höttges führte Mio Blönner in das Vernehmungszimmer.
Der Raum war bislang nicht gebraucht worden. Er sah aus wie ein ganz normales Büro, selten benutzt, mit einem Schreibtisch und zwei identischen gepolsterten Stühlen. Ausblick auf die Silhouette des Doms. Es roch nach Kleister und Fugenkitt. Die Glasscheibe, die nur von außen blickdurchlässig war, sollte noch eingesetzt werden. An ihrer Stelle befand sich einstweilen eine Wand aus Rigips. Das Zimmer wirkte anonym, aber nicht einschüchternd. Jakub hatte hier Hand angelegt.
»Lass uns die kleineren Delikte der letzten Monate durchgehen«, sagte Photini. »Drogen, Diebstahl, ich bin sicher, wir stoßen
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