Der vierte Mörder: Klemens Raupachs erster Fall (German Edition)
Ludwig gewünscht.
Ein Schmutzspritzer landete auf ihrer Wange. Luzius wischte ihn mit einem Papiertaschentuch ab und rangierte den Rollstuhl neben die Parkbank, auf der Sheila saß.
Von diesem Platz aus konnte seine Mutter die Rosenbeete sehen, die sie so sehr liebte. Im Sommer standen sie in voller Blüte. Jetzt waren die Pflanzen nur trockene Stümpfe. Nachdem Luzius die Bremse arretiert hatte, setzte er sich und holte eine Tüte mit gebrannten Mandeln vom Weihnachtsmarkt hervor. Das Papier war noch warm. Er verbarg die Tüte vor Mutters Adlerblick und steckte verstohlen eine Mandel in den Mund. Die Zuckerumhüllung schmolz auf seiner Zunge.
»Paeonia lactiflora« stand auf einem Schild. »Milchweiße Pfingstrose. China«. Er behielt es für sich.
Luzius sah auf seine Armbanduhr, ein schwerer Chronometer mit vielen Zeigern und Zifferblättern. Nestor hatte sie ihm besorgt. Es war halb elf.
Sheila zählte die Kieselsteine in ihrer Hand. Ab und zu warf sie einen davon auf das mit Brettern abgedeckte Bassin des Springbrunnens. Die Steine erzeugten einen trostlosen Laut und blieben liegen.
Er vermied es, sie anzusehen. Sheila schaute auch gar nicht zu ihm herüber. Sie war ganz in Gedanken versunken. Er hatte all die kleinen Veränderungen an ihrem Körper registriert, seit ihr Vater Jef gestorben war. Ihr Brüste wuchsen, das war gestern Nacht nicht zu übersehen gewesen. So, wie sie sich anzog, betonte sie es auch noch.
»Schwänzt du die Schule?«, fragte Luzius schließlich.
Sheila drehte den Kopf in seine Richtung. »Was denn sonst?«
Luzius steckte die Mandeln wieder ein und nahm eine Schachtel mit Blätterteiggebäck aus seiner Jackentasche. Gennaro vom Il Mulino hatte sie ihm geschenkt. Wahrscheinlich stand er schon wieder am Herd, obwohl er gestern Nacht sternhagelvoll gewesen war und gestützt werden musste, als er aus dem Club getorkelt kam. Er kannte Luzius’ Vorliebe für Knabbereien.
Berta konnte das Gebäck ohne Schwierigkeiten kauen. Er hielt ihr eine kleine Blätterteigbrezel hin. Sie machte eine unwirsche Handbewegung, und die Brezel landete auf der Abdeckung des Springbrunnens. Zwei Meisen machten sich darüber her.
»Ich komme oft hierher«, fuhr Sheila fort. »Was meinst du? Soll ich lieber in die Schule gehen? Damit sie mir da was Vernünftiges beibringen?«
Luzius zuckte mit den Schultern. Von der Schule hielt er nicht allzu viel. Er hatte sie immer gemieden. Aber das konnte er Sheila natürlich nicht sagen. Was in aller Welt sollte er ihr sagen? Er überlegte, wollte das Thema nicht von sich aus anschneiden. »Manchmal muss man sich durchbeißen«, sagte er. Die Kohlmeisen rissen die Blätterteigbrezel in Fetzen und schlangen die Stücke hinunter.
»Das hab ich lange genug getan«, gab Sheila zurück.
Luzius betrachtete seine Mutter. Sie starrte ins Leere. Als er begonnen hatte, in die Schule zu gehen, war sie seiner müde geworden. Damals hatten sie noch in Verviers gewohnt. Sein Vater war gerade auf Nimmerwiedersehen nach Südtirol verschwunden, an einen Ort, den Luzius später ausfindig gemacht hatte. Berta hatte halbherzig versucht, ihrem Mann zu folgen, aber sie schaffte es nur nach Aachen und später nach Köln, was ganz beachtlich gewesen war für ihre eingeschränkten Verhältnisse. Luzius konnte den Augenblick genau benennen, an dem sie beschlossen hatte, ihre erzieherischen Pflichten niederzulegen, wie sie sich ausgedrückt hatte. Stein des Anstoßes war eine Tüte Mandeln gewesen. Er hatte sie auf dem Jahrmarkt gekauft, als er eigentlich Medikamente für seine Mutter besorgen sollte. Dann hatte er das mitgenommene Geld in allerlei Fahrbetrieben ausgegeben und war erst Stunden später zurückgekommen, mit Süßigkeiten anstelle von Schmerzmitteln.
Der Jahrmarkt. Nachdem er die Schule verlassen hatte, war Luzius lange Zeit mit Schaustellern und Budenbesitzern durch ganz Europa gezogen. Diese Zeit hielt er für die schönste in seinem Leben. Sie war zu einem Tagtraum geworden, dem er gelegentlich nachhing, wie man ein lieb gewonnenes Hemd immer wieder anzog, auch wenn es am Kragen schon durchgescheuert war. Es erschien ihm altmodisch, aber so war das wohl bei Tagträumen, die in der Vergangenheit spielten.
»Sind deine Lehrer so schlimm?«, fragte er Sheila und schaute dabei immer noch zu Boden.
»Ach, die sind ganz in Ordnung«, sagte das Mädchen. »Sie geben sich Mühe.«
»Warum bist du dann hier? Es wäre besser …«
»Kann ich nicht einfach auf einer Parkbank
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