Der vierte Mörder: Klemens Raupachs erster Fall (German Edition)
der schlauchförmigen Kneipe, in der sie von ihrem Platz neben dem Geldspielautomaten alles überblicken konnte, ein Horizont vor ihr abzuzeichnen. Durch die Butzenscheiben waren vom Geschehen auf der Straße nur bewegte Schemen zu erkennen.
Die Stunden vergingen von alleine. Mit dem Zeigefinger umkreiste sie die Flecken auf der Tischdecke. Lustlos blätterte sie in einer Zeitung und suchte nach den Stellenanzeigen. Am Montag waren natürlich keine drin. Stattdessen las sie ihr Horoskop: Mehr auf die Gefühle hören, stand da, dann spüren Sie, wo es langgeht. Die Zeitungsseiten waren zerknittert. Valerie hatte den Eindruck, als seien sie durch viele Hände gegangen, so wie ihr Leben.
Gegen Mittag füllte sich das Lokal. Es gab Bockwurst, Schnitzel »Wiener Art« und Reibekuchen. Auf Valeries Tisch befand sich ein Aufsteller: »NEU: Toast Hawaii«. Obwohl Valerie keinen Appetit hatte, nahm sie den Toast. Er schmeckte gar nicht so schlecht. Und der Preis stimmte auch.
Als die meisten Leute wieder gegangen waren, setzte sich die Bedienung zu ihr und gab einen Weinbrand aus. Ihr Name war Yvonne. Sie erzählte Valerie ihre komplette Lebensgeschichte. Mit gelegentlichen Unterbrechungen dauerte das bis zum späten Nachmittag. Gegen fünf kamen nach und nach zwei ältere Ehepaare und ein paar allein stehende Rentner herein. Yvonne war mit ihrer Geschichte fertig und widmete sich den Gästen. Sie kannte alle namentlich, wechselte ein paar Worte über das gestrige Fernsehprogramm und machte zum Abschluss einen anzüglichen Witz. Die Leute fanden das amüsant.
Valerie blieb noch eine Stunde sitzen. Dann fiel ihr ein, dass sie Sheila zur Abwechslung ein warmes Abendessen zubereiten könnte. Es kam immer seltener vor, dass sie gemeinsam aßen. Meistens reichte die Zeit nur für belegte Brote, morgens wie abends.
Sie versuchte aufzustehen. Es gelang ihr erst beim dritten Anlauf. Sie fühlte sich wie gelähmt.
WeiSSe Blasen seh ich springen, wohl! die Massen sind im Fluß. Marta hatte diesen Ausdruck benutzt, wenn sie in eine Bahn stieg. »Ich gehe in den Fluss«, hatte sie gesagt, ihre Ledertasche geöffnet und die Videokamera eingeschaltet. An der Längsseite der Tasche befand sich ein kreisrundes Loch für das Objektiv. Marta hatte es ausgeschnitten, um den unterirdischen Strom der Stadt unbemerkt zu filmen. Johan hütete die Aufnahmen wie Reliquien. Ein ganzes Zimmer war in seiner Wohnung dafür reserviert. Im ersten Jahr nach Martas Ermordung hatte er sich die Bänder regelmäßig angesehen. Inzwischen kannte er jeden Millimeter. Die blaustichigen Bilder erinnerten ihn an ein Aquarium. Alles schien verlangsamt, Räume, Menschen, Bewegungen, festgehalten von Martas unbestechlichem Blick. Die Videokamera war ihre Schleuse in die Welt gewesen. Sie hatte kaum mehr gesprochen, seit sie sich diesem Projekt verschrieben hatte. Johan hatte zusammen mit ihr geschwiegen. Kein Laut war über seine Lippen gekommen, Marta war äußerst reizbar gewesen. Hin und wieder hatte er sie berühren dürfen, am Rücken, wo ihre Muskeln hart wie Metallplatten waren.
Er begab sich von der Buchhandlung direkt zu der oberirdischen Haltestelle am Neumarkt und nahm die Linie 7. In wenigen Minuten war es 18 Uhr 33. Diese Ziffern würden sich bald ins Gedächtnis der Stadt einbrennen. Es waren nicht die Ereignisse, die den Menschen in Erinnerung blieben, sondern die damit verknüpften Zahlen. Achtzehn Dreiunddreißig sollte eine ähnliche Bedeutung zuteil werden wie einem nationalen Gedenktag, mit dem Unterschied, dass eine Uhrzeit an jedem Tag wiederkehrt. Er beabsichtigte, die Zahlen auf besondere Weise hervorzuheben, wenn es so weit war. Es musste deutlich werden, dass es immer wieder passieren konnte, an jedem beliebigen Tag.
Johan stieg am Rudolfplatz aus und ging die Treppe zur U-Bahn-Station hinunter. Er wartete. In der Luft lag ein Geruch nach Elektrizität und nach den Ausdünstungen vieler Menschen, völlig unabhängig von dem Wetter, das oben an der Oberfläche herrschte. Wir lieben diesen Geruch, flüsterte Marta. Er versetzt uns in eine eigene Sphäre.
Er stieg in den letzten Wagen der Linie 15. Es war eine alte Bahn, bald würde sie außer Dienst gestellt werden, aber sie kam pünktlich. 18 Uhr 33. Johans Blick glitt über die Pressspanverkleidungen. Die brannten bestimmt wie Zunder.
Die Schuldigen waren versammelt. Sie wussten es nicht, aber genau das war der Grund, aus dem sie dem Untergang geweiht waren. Direkt trugen sie
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