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Der vierte Mörder: Klemens Raupachs erster Fall (German Edition)

Der vierte Mörder: Klemens Raupachs erster Fall (German Edition)

Titel: Der vierte Mörder: Klemens Raupachs erster Fall (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Kastura
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mussten ihn für einen eigenbrötlerischen Spinner halten. Vielleicht hatten sie Recht. Es ging ihm nicht gut. Dieser Tag hatte ihm noch mehr zugesetzt als das Gedächtnistraining am Sonntag. Seine Sorgfalt, seine neue, mühsam eingeübte Bedachtsamkeit, all die Schlussfolgerungen, die er mit Heide und Photini angestellt hatte – wozu waren sie nütze? Um Fälle zu bearbeiten, aus denen nie ein richtiger Fall wurde. Es waren nichts weiter als Trockenübungen. Er kam sich vor wie ein Rekrutenausbilder mit einem steifen Bein – und einem einzigen renitenten Rekruten. Was brachte schon eine Übung zur Fortbildung? Langsam sollte er über eine komplette Umschulung nachdenken, einen Berufswechsel.
    Die glatte Wasserfläche sah seltsam aus, wenn Regentropfen darauf fielen. Sie wurde zu einer Decke aus grobem Stoff, in die man sich hüllen wollte, um nicht mehr aufzuwachen, bis der Winter vorüber war. Raupach konnte Mädchen wie Babette verstehen. Egal, ob sie selbst gesprungen oder ermordet worden war: Sie hatte einen grenzenlosen Überdruss verspürt. Bei manchen brauchte es dafür vierzig, bei anderen nur sechzehn Jahre. Erstaunlich, dass es bei ihm so lange gedauert hatte, dachte er und begann den See zu umrunden. Womit hatte er sich bloß abgelenkt, seit Woytas auf seinen Platz gerückt war? Hatte er geglaubt, dass sein inneres Exil nur vorübergehend war? Dass er nur stumm seine Pflicht tun musste, bis man ihn wieder zurückrief und mit neuen Aufgaben und der alten Verantwortung betraute? Als er die Fußgängerbrücke überquerte, widerstand er der Versuchung, in der Mitte stehen zu bleiben. Auch das hatte es früher kaum gegeben: Er hatte immer scharf getrennt zwischen Beruf und Privatleben. Mittlerweile ging ihm jeder zweite Fall nahe, egal, wie lang er schon zurücklag.
    Er hatte gehört, dass Langsamkeit kreativ machte. Dass Warten ein Abenteuer sein konnte in einer Zeit des Beschleunigungswahns. Aber er war nicht bewusst langsam. Er zwang sich dazu, seit er vor drei Jahren einen Menschen getötet hatte. Der Mann war ein flüchtiger Mörder gewesen. Das hatte sich aber erst später herausgestellt. Als ihm Raupachs Kugel in die Brust gedrungen und sein Leben zum Stillstand gekommen war, hatte er nur unter Verdacht gestanden. Der Mann hatte als gefährlich gegolten, das muss man hinzufügen. Als er davonlief, glaubte Raupach, keine andere Wahl zu haben. Er hätte ihm vorschriftsmäßig in die Beine schießen sollen. Aber die waren von einer Mauer verdeckt gewesen. Er hätte ihn nicht stellen, sondern weiter observieren können, bis sich eine bessere Gelegenheit ergab. Er hätte sich vergewissern müssen, ob er bewaffnet war. Was Raupach für eine Pistole unter der Achsel gehalten hatte, war nur eine dicke Versandtasche mit Urlaubsprospekten gewesen. Er hätte nicht an die Menschen denken sollen, die der Mann umgebracht und die Raupach, wenn auch nur flüchtig, gekannt hatte. Er hätte nicht seinem spärlichen Wissen und seiner Intuition vertrauen sollen. Er hätte nicht schießen sollen.
    Hatte er zu wenig oder zu viel nachgedacht, bevor er den Abzug zog? Raupach war der festen Überzeugung, dass es zu wenig gewesen war. Deshalb hatte etwas in ihm nicht mehr einschlafen wollen. Deshalb hatte er in der Zeit, die den verhängnisvollen Schüssen folgte, umso intensiver nachgedacht, tage-, nächte-, wochenlang. Deshalb hatte sich die Frau, mit der er sechs Jahre zusammengelebt hatte und den Rest seines Lebens hatte verbringen wollen, von ihm getrennt und für immer die Stadt verlassen. Raupach hatte versucht, ihren Namen und alles, was er damit verband, aus seinen Gedanken zu löschen. Seither unterdrückte er jede Erinnerung an sie. Nicht weil er ihr die Schuld an seinen eigenen Fehlern gab. Für seine Fehler stand er gerade, daran war nicht zu rütteln. Er dachte deswegen nicht an sie, weil ihm jedes Mal das Herz brach, wenn er sich nur für einen Augenblick ausmalte, was ihm durch die Schüsse unwiederbringlich entglitten war.
    Er hatte die Leitung des Archivs übertragen bekommen und die Arbeit bereitwillig angenommen. Er hatte versucht, langsamer zu werden, alle Faktoren zu berücksichtigen. Andererseits wollte er pünktlicher sein, zuverlässiger, effizienter. Dazu war er durchaus in der Lage. Er konnte schnell handeln, manchmal war das unbedingt erforderlich. Ein Polizist hatte keinen Zeitbonus, den er nach Belieben aufbrauchen konnte. Die Verbrecher warteten nicht, bis ein Kommissar um die Ecke bog. Es

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