Der vierte Mörder: Klemens Raupachs erster Fall (German Edition)
keine Schuld an Martas Tod. Keiner von ihnen hatte selbst Hand angelegt. Der eigentliche Mörder war ein Junge gewesen, kaum älter als sechzehn oder siebzehn, ein Minderjähriger. Johan hatte ihn nur für den Bruchteil einer Sekunde gesehen und seither nie wieder. Die Polizei hatte vergebens nach ihm gefahndet. Nach einer Weile war es so, als hätte es ihn niemals gegeben.
Johan hatte die Frage nach dem Täter irgendwann revidiert. Da man seiner nicht habhaft werden konnte, hatte er die Frage neu gestellt und war zu einem anderen Ergebnis gelangt. Die Leute hatten keinen Finger gerührt, um Marta beizustehen. Also waren sie Mittäter.
Kein Hilferuf war von ihr zu hören gewesen. Marta blieb stumm bis zuletzt. Als er mit zwei Fahrkarten aus dem Automaten zurückgekommen war, hatte er geahnt, dass etwas nicht stimmte. Die krampfhaft zu Boden gerichteten Blicke waren immer wieder in eine ganz bestimmte Richtung geirrt. Er hatte Marta sogar noch von weitem gesehen. Eine halbe Minute zu spät. Höchstens.
Nachdem es geschehen war, hatte die Neugier der Umstehenden über ihr Gewissen gesiegt. Sie waren näher getreten, hatten zuerst auf die Gleise gestarrt und dann nach einer Reaktion auf seinem Gesicht gesucht. Sie konnten es nicht für einen übermütigen Streich gehalten haben. Sie konnten es nicht übersehen haben. Sie hatten es geduldet.
Johan sah sich unauffällig um. Zum Beispiel Mattes und Thierry. Er hörte, wie die beiden gerade über einen großen Auftrag redeten, der ihrer Webagentur weggebrochen war. Im Fitnessstudio wollten sie eine Sonderschicht einlegen. Diese Art Kompensation konnte Johan nur recht sein. Es verschaffte ihm genügend Zeit für seine eigenen Unternehmungen.
Zum Beispiel die Güsgen. Sie hielt sich für zu alt, um Jüngeren zu helfen. Stattdessen steckte sie die Nase in ein dünnes Boulevardblatt, immer auf dem gleichen Platz neben der Tür. Als ob sie in ihrem Kiosk nicht genug Zeit für solch abgeschmackte Lektüre hätte. An jedem Werktag fuhr sie kurz nach 18 Uhr von der Florastraße in die Innenstadt, warf eine Geldkassette mit den Tageseinnahmen in den Nachttresor ihrer Bank und nahm die nächste Bahn zurück nach Nippes. Vermutlich hatte sie panische Angst, in ihrem kleinen Laden überfallen zu werden.
Zum Beispiel Yilmaz. Er hatte den ganzen Tag Lebensmittel ausgeliefert. Seine Frau und seine drei Kinder warteten auf ihn. Zumindest bildete er sich das ein, wie er so dasaß und die Stationen mitzählte. Ein Familienvater, der am Kopf der Tafel Lammkoteletts verteilte. Das Fleisch befand sich in der Tragetasche zwischen seinen Füßen. Er würde es sich alleine braten müssen, während seine Frau mit der Nachbarin den neuesten Klatsch austauschte und die Kinder sich irgendwo im Viertel herumtrieben, vielleicht auch am anderen Ende der Stadt. Die Wohnung lag im Erdgeschoss, Johan hatte sie oft genug beobachtet. Er wusste, was bei Yilmaz zu Hause los war.
Oder Valerie. Aus ihrer Sicht waren die Probleme aller anderen unbedeutend, weil sie ihre eigenen besonders wichtig nahm. Als wäre das eine Entschuldigung. Es gab keine Entschuldigung. Das würde ihr und den anderen bewusst werden, in einem kurzen lodernden Augenblick.
Sie alle fuhren jeden Tag mit derselben Bahn, in demselben hinteren Wagen, huldigten einer Gewohnheit, die für Johan zur Gewissheit geworden war. Von der Stirne heiß rinnen muß der Schweiß. Es klang wie ein Volkslied.
Raupach lief so lange durch die Stadt, bis ihm die Beine wehtaten. Das mit dem Gehen war merkwürdig. Manchmal konnte er von der Südstadt bis zu seiner Wohnung laufen, ohne dass es ihn sonderlich anstrengte. Und dann schmerzten ihn schon die paar Meter zu den Mülleimern im Hinterhof.
Dicke Regentropfen landeten auf seinen Schultern und perlten an dem wasserdichten Jackenstoff ab. Er hatte das Präsidium verlassen und gelangte über die Deutzer Brücke auf die andere Seite des Rheins. Ging die Severinstraße hinunter, bog am Chlodwigplatz in die Merowingerstraße ein. Durchquerte den Volksgarten. Schlurfte zurück auf den Ring. Fuhr ein paar Stationen mit der KVB zum Rudolfplatz. Streifte durchs Belgische Viertel. Trank an einer Dönerbude einen heißen Tee. Ging weiter zum Friesenplatz und zum Mediapark. Überlegte, ins Kino zu gehen. Verwarf den Gedanken, weil nichts lief, was ihn interessierte. Und starrte stattdessen auf die Fläche des künstlichen Sees, an dem sein Abstieg vor drei Jahren begonnen hatte.
Die Menschen, die ihn sahen,
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