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Der vierte Mörder: Klemens Raupachs erster Fall (German Edition)

Der vierte Mörder: Klemens Raupachs erster Fall (German Edition)

Titel: Der vierte Mörder: Klemens Raupachs erster Fall (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Kastura
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hatte keinen Zweck, sich vorzumachen, dass Langsamkeit an und für sich Probleme löste. Andererseits begünstigte Schnelligkeit Fehler. Flüchtigkeiten, Unachtsamkeiten, Impulsivität, dies alles galt es auszuschalten. Sonst geschah – ganz schnell – ein Unglück.
    Das rechte Zeitmaß war ihm verloren gegangen. Jetzt wurde er das Zaudern nicht mehr los.

    Die Mörderin stieg in letzter Sekunde zu. Die Türen schlossen sich hinter ihr, die Bahn fuhr los. Johan roch, dass sie getrunken hatte. Ihr Kopf wippte träge hin und her. Dann setzte sich Valerie neben ihn.
    Sie werden nach einer Erklärung suchen, dachte er. Sie werden sich fragen, was einen Menschen so weit treibt. Es wird Mutmaßungen geben, Theorien, Diagnosen, Schuldzuweisungen. Zuerst werden sie ihn für einen Terroristen halten oder für ein Mitglied eines terroristischen Netzwerks. Sie werden islamische Fundamentalisten für den Anschlag verantwortlich machen, bis ihnen das Schiller-Gedicht einfällt. Es wird Dementis geben, kluge und dumme Kommentare in den Zeitungen, wilde Spekulationen. Nach den ersten Ermittlungen werden sie ihn vielleicht für einen Amokläufer halten, für einen Einzeltäter, was nicht ganz der Wahrheit entsprach. Aber Differenzierungen, dachte er, werden ab einem bestimmten Punkt einer Massenpanik nicht mehr gemacht.
    Erst wenn alles vorbei sein wird, werden sie in seiner Vergangenheit forschen. Aber so einfach machte er es ihnen nicht. Das meiste hatte er ausgelöscht. Es war nicht viel von seinem Leben übrig, woraus sich Schlüsse ziehen ließ. Er würde kein Manifest oder so etwas hinterlassen, nichts, was auf seine Beweggründe hindeutete. Er wollte niemanden zu irgendetwas bekehren, niemanden überzeugen, wachrütteln, auf keine Missstände hinweisen. Das empfand er als lächerlich – und widersprüchlich. Man tötete nicht fünfzig oder hundert Menschen, um den Überlebenden auseinander zu setzen, wie eine Gesellschaft auszusehen habe, in der jeder über sein eigenes Leben bestimmen kann. Ein Manifest war eine triumphale Geste, ein eitler Beweis der Überlegenheit. Er war ihnen überlegen, das musste er nicht noch in ausufernde Worte fassen. Das Gedicht und ein, zwei erklärende Sätze genügten vollauf. Er wollte nur ausgleichende Gerechtigkeit. Den Glauben, dass sich dadurch irgendetwas zum Besseren wenden ließ, hatte er längst verloren. Sie würden vermutlich nicht einmal herausfinden, was Marta zugestoßen war. Und es war beileibe nicht seine Aufgabe, ihnen auf die Sprünge zu helfen. Der Moment, als sie von der Bahnsteigkante fiel. Ihr langes, dünnes Haar. Es wehte ihr hinterher wie ein letzter Gruß.
    Hansaring. Noch drei Stationen. Valeries Kopf sank auf seine Schulter. Sie war neben ihm eingeschlafen. Eine Haarsträhne hatte sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst und berührte seine Hand. Das kitzelte. Warum brachte sie Johan, einem ihr weitgehend Unbekannten, so viel Vertrauen entgegen? Eine zufällige Berührung hat nichts zu bedeuten, sagte Marta. Sie hat getrunken. Er rückte von der Frau ab.
    »Hey, nicht doch! Das war bequem!« Valerie richtete sich auf und blinzelte ihn aus glasigen graubraunen Augen an. Ihre Stimme klang belegt. Als ihr bewusst wurde, wo sie sich befand, hielt sie die Hand vor den Mund. Der Mann, den sie gerade angeschnauzt hatte, sah sie ausdruckslos an.
    »Haben wir uns nicht schon mal gesehen?«, fragte sie.
    »Ich sehe Sie jeden Tag«, antwortete Johan.
    Ihr Make-up war völlig verschmiert. Sie machte es noch schlimmer, indem sie sich mit dem Ärmel über die Augen fuhr. »Kann sein. Ja, ich glaube, ich kenne Sie.«
    »Sie kennen mich?«, fragte er.
    Sie saßen auf dem letzten Zweiersitz des Wagens. Die Beine des groß gewachsenen Mannes ragten in den Gang hinein. Er trug einen beigen Dufflecoat und eine dunkelgraue Kordhose. Zwischen seinen Füßen stand eine Tasche aus hellem Schweinsleder. Seine Schuhe waren unauffällig und trotz des schmuddeligen Wetters blank geputzt. Unter dem Rand einer Strickmütze schauten rotblonde Koteletten hervor. Auf Valerie wirkte er, als wartete er auf den nächsten Halt. Als sie am Ebertplatz ankamen, blieb er jedoch sitzen.
    »Sie nehmen immer dieselbe Bahn wie ich, oder?«, fragte sie.
    »Ich nehme die Bahn um 18 Uhr 33 ab Rudolfplatz, wenn Sie das meinen.«
    »Ist das nicht ulkig?«
    »So würde ich das nicht nennen.«
    »Vor allem heute«, fuhr Valerie fort. »Eigentlich gibt es für mich keinen Grund mehr, in dieser Bahn zu sitzen.« Sie

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