Der vierte Mörder: Klemens Raupachs erster Fall (German Edition)
er all diese Anhaltspunkte mit ähnlichen Fällen.
Photini kümmerte sich um die äußeren Merkmale. Dabei fielen ihr zwei Umstände auf: Der Mann trug zwar Handschuhe, aber der Zeigefinger seiner linken Hand schien kürzer zu sein, möglicherweise aufgrund einer Verstümmelung. Außerdem hatte der Kassierer des Baumarkts ausgesagt, dass der Anführer sich auffällig oft unter den Achseln gekratzt hatte. Alle Videoaufnahmen bestätigten dies, was auf eine Hautkrankheit hindeutete. Zusammen mit seinem Stimmmuster war das genug, um ihn zu identifizieren. Falls er sich in der Verbrecherkartei befand. Falls nicht, bekamen die Ermittler eine Reihe von Indizien an die Hand, mit denen sie sich auf die Straße begeben konnten.
Raupach heftete eine Landkarte mit Markierungen an das Gutachten. Daraus war zu ersehen, wo die Überfälle stattgefunden hatten, mit möglichen Fluchtwegen und allem, was dazugehörte. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Täter in dieser Gegend auftauchen würden oder sogar dort wohnten, stufte er als hoch ein.
Am frühen Abend waren sie fertig. »Die Mohren haben ihre Schuldigkeit getan«, sagte Photini. Sie wusch die Espressokanne aus und schlüpfte in ihre Daunenjacke. »Jetzt dürfen sie gehen.«
»Wir haben gute Arbeit geleistet.« Raupach fuhr den Computer herunter. »Was Woytas mit diesen Informationen anfängt, ist seine Sache«, setzte er hinzu.
Er hatte Zweifel, was den Nutzen eines Profilings betraf. Die Übereinstimmungen zwischen einem Täterprofil und dem tatsächlichen Täter konnten entweder reiner Zufall sein, oder sie trafen auf viele Menschen mit ähnlicher Sozialisation oder Lebensumständen zu.
»Ich bitte dich«, sagte Photini. »Mit so einem Profil ist es kinderleicht, die Richtigen zu fassen.«
»So einmalig, wie sich manche Ermittler ihre Täter wünschen – und wie sich manche Täter selber fühlen –, sind sie nicht.« Der ganzen Methode wurde zu viel Bedeutung beigemessen. Gerichtsfest waren die Erkenntnisse, die aus einem Profiling resultierten, selten. Daraus gar einen Beweis abzuleiten, hielt er für leichtfertig.
»Zumindest lässt sich der Täterkreis eingrenzen.«
»Es gibt kein Schema F, nach dem sich Straftaten einer bestimmten Person zuordnen lassen, Photini. Das musst du dir aus dem Kopf schlagen. Letztlich steht jeder Fall für sich und verlangt nach einer individuellen Aufklärung. Die Spuren, die du entdeckt hast, wurden bislang übersehen. Sie sind ungleich wertvoller als eine Studie über die sprachlichen Besonderheiten eines jungen Tankstellenräubers, der vermutlich die gleichen Musiksendungen und Vorabendserien anschaut wie Millionen andere auch.«
Er hielt wieder Grundsatzmonologe, stellte sie fest. Das konnte ein Anfang sein.
»Jedenfalls haben wir unseren Job erledigt«, sagte Raupach. Er löschte das Licht und ließ Photini hinausgehen. »Das reicht, um ruhigen Gewissens in die U-Bahn zu steigen und nach Hause zu fahren.«
»Und die Lorbeeren ernten andere«, erwiderte sie. Photini interessierte sehr wohl, wie die Ergebnisse ihrer Arbeit verwertet wurden und wer daraus Nutzen zog.
»Du hast ein Problem mit Autoritäten.« Er schloss die Tür des Büros ab.
»Und du hast ein Problem mit deiner Selbstachtung.«
Raupach mochte ihre Aufsässigkeit. Er konnte gut nachvollziehen, dass Vorderbrügge damit nicht zurechtgekommen war. Warum er sich von der Personalabteilung eine pflegeleichte Gehilfin erbeten hatte, die tat, was man ihr sagte, und ansonsten den Mund hielt. Photini hielt Raupach auf Trab. Außerdem hatte alles, was sie sagte, Hand und Fuß. Für jemanden wie Vorderbrügge war diese Kombination schwer zu ertragen.
»Du bist auf einmal so still«, wunderte sich Photini, während sie den Mittelgang des Archivs entlangschritten. Die Bemerkung über seine Selbstachtung hätte sie sich sparen sollen, dachte sie. »Haben Sie nichts zu Ihrer Verteidigung vorzubringen, Herr Angeklagter?«
»Den Ausführungen des hohen Gerichts ist nichts hinzuzufügen.« Schweigend gingen sie weiter. Raupach ließ die Panzerglastür des Archivs zuschnappen und drückte die Taste am Aufzug. Er fixierte den Spalt zwischen den Türen.
Photini stand hinter ihm. Manchmal hasste sie es, im Recht zu sein.
Raupach wohnte in der rechten Hälfte eines Doppelhauses in der Gneisenaustraße. Es war die ungepflegte, vernachlässigte Seite. Die Fassadenfarbe war von einem Grün, das eher auf einen natürlichen Verfallsprozess zurückzugehen schien als auf die
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