Der vierte Mörder: Klemens Raupachs erster Fall (German Edition)
schlang einen Rollmops im Stehen hinunter. Da ihn das Kokoshühnchen vom Thai-Imbiss nicht satt gemacht hatte, brauchte er unbedingt noch etwas Salziges.
»Gib mir auch einen«, sagte Heide. »Das ist besser als Oliven.« Sie hatte ein unbeschriftetes Glas Kalamata-Oliven bemerkt, als sie das Bier kalt stellte. Das konnte nur von Photini stammen.
»Die Heringsbestände sind überfischt. Meinst du, wir können das verantworten?«
»Die werden schon nicht gleich aussterben.«
Raupach reichte ihr einen Rollmops. Sie legte den Kopf in den Nacken und ließ den Fisch in ihren weit geöffneten Mund fallen.
»Pass auf, da ist noch …«
Heide pulte einen Holzspieß aus ihrem Mund. Sie schluckte und spülte den Fisch mit Bier hinunter. Es schmeckte erstaunlich gut, irgendwie runder als die meisten Sorten, die sie kannte. »Naturtrüb ohne künstliche Klärmittel« stand auf dem Etikett. An diesen Bio-Richtlinien schien etwas dran zu sein.
Raupach setzte sich neben sie an den Küchentisch und nahm die Unterhaltung wieder auf, die sie auf dem Weg zu seiner Wohnung geführt hatten. »Ich wiegele nicht ab. Ich versuche nur, alle äußeren Umstände einzubeziehen.«
»Tu doch nicht so, als seist du in der Verbannung. Hör endlich auf, dich einzuigeln. Diese ungelösten Fälle sind nicht minderwertig. Irgendwann geschahen sie vor unseren Augen. Erst danach wanderten sie ins Archiv.«
»Du hast leicht reden.«
»Wenn du die Vergangenheit gering schätzst, verlierst du über kurz oder lang das Interesse an der Gegenwart. Willst du als eine von diesen Verwaltungsexistenzen enden, für die jeder neue Fall nur eine Störung des Landfriedens ist? Die sich zurücklehnen und den Dingen ihren Lauf lassen? Deswegen gibt es da draußen so viele Irre, die sich ihren Frust in anonymen Briefen von der Seele schreiben.«
»Was habe ich mit ihnen zu schaffen?«
»Du bist ein Ermittler, schon vergessen?«
Raupach nahm sich eine Zigarette. Auf der Neusser Straße waren sie von einem PR-Team mit Werbepackungen einer neuen Marke überhäuft worden. Er konnte sie ja mal ausprobieren. »Was hast du dir ausgedacht, um mich zu bekehren?«
Heide holte einen Zettel aus ihrer Handtasche, entfaltete ihn und legte ihn auf den Tisch.
Wehe, wenn sie losgelassen
Wachsend ohne Widerstand
Durch die volkbelebten Gassen
Wälzt den ungeheuren Brand!
Denn die Elemente hassen
Das Gebild von Menschenhand.
»Du dichtest?«
»Ja, und sie sind schon ganz heiß darauf, mir den Nobelpreis zu verleihen.« Sie schob ihm den Zettel hin und bemerkte die Hängeordner im Wohnzimmer. »Hast du wieder Überstunden gemacht?«
»Sieht so aus.« Raupach untersuchte die Fotokopie, hielt sie gegen das Licht. Dann las er das Gedicht. »Wieder Schiller?«
»Goethes kleiner Bruder, genau.«
»Und weiter?«
»Eine Zeugin, na ja, ein Zeuge hat mich angerufen. Sein Hund hat einen Plastikumschlag in der Nähe der Kinderspielhöhle ausgebuddelt. Mit diesem Brief.«
»Was ist eine Kinderspielhöhle?«
Sein ratloses Gesicht brachte Heide vollends aus der Fassung. »Eine kleine Kuppel aus Weidengeflecht. Hast du meine Mail nicht gelesen?«
Er schüttelte den Kopf.
»Wozu schicke ich dir das Zeug? Meinst du, ich habe nichts Besseres zu tun, als dir Verschlusssachen aus dem Tagesbericht zuzuspielen?«
Sie zeigte ihm die Fotos, die Höttges gemacht hatte, und erklärte alles Weitere.
Allmählich verstand er. »Der Kerl scheint langsam ernst zu machen.«
»Er scheint ?«, erwiderte sie mit übertriebener Betonung.
»Wenigstens ist niemand verletzt worden.«
»Noch nicht«, sagte sie. »Aber das muss nicht so bleiben. Ich glaube nicht, dass dies das Letzte war, was wir von ihm gehört haben. Die Glocke ist ein langes Gedicht.« Sie trank ihre Bierflasche leer, holte sich eine neue und blickte an die Decke. »Hört ihr’s wimmern hoch vom Turm? Das ist Sturm! Rot wie Blut ist der Himmel. Das ist nicht des Tages Glut.« Nach einer Pause fuhr sie fort. »So geht es weiter im Text, nur um dir einen Vorgeschmack zu geben. Die richtig unheimlichen Stellen kommen noch.«
»Du meinst, das ist eine Warnung? Das nächste Mal bringt er jemanden in Gefahr?«
»Ich meine gar nichts. Gut möglich, dass der nächste Brief ein Erpresserschreiben ist. Vielleicht fordert er zehn Millionen, damit er den Dom nicht anzündet.«
»Sei nicht albern.«
»Wir kennen seine Absichten nicht.« Heide richtete den Finger auf ihn. »Sicher ist nur, dass er die Sache forciert.«
»Er möchte
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