Der vierte Mörder: Klemens Raupachs erster Fall (German Edition)
er Valerie passierte, ging sie einige Stufen nach oben. Im Treppenhaus über ihr waren keine Schritte zu hören. Stellte da jemand nur seine Schuhe raus?
»Warten Sie, das haben wir gleich.« Er machte sich an den Briefkästen zu schaffen. Die Schlösser waren primitiv. Er musste seinen Schlüssel nur ein wenig kippen, um Valeries Kasten zu öffnen. In solchen Dingen war er recht geschickt. Luzius entnahm die Post und verriegelte den Kasten wieder.
»Hier.« Er reichte ihr ein paar Briefe. Von oben war zu hören, wie eine Tür ins Schloss fiel. Seine Tür, das erkannte er am Klang. Er entspannte sich.
Sie streckte den Arm aus und hielt mit dem anderen ihren Mantel zu, immer darauf bedacht, genügend Abstand zu halten.
»Ist Sheila schon zu Hause?«, fragte er.
»Wie kommen Sie denn darauf?« Sie nahm die Briefe, steckte sie in eine Manteltasche und zog den Gürtel noch straffer, als er ohnehin schon saß. Er schnitt in ihre Taille.
»Sie wird bald kommen. Bestimmt möchte sie ihrer Mutter keinen Kummer machen.« Luzius bückte sich und hob den Flipflop auf, den Valerie gesucht hatte. Er war unter die letzte Stufe gerutscht. »Der gehört Ihnen.« Er deutete auf ihren Fuß und hielt ihr den Flipflop hin, damit sie hineinschlüpfen konnte. Dabei drehte er den Kopf zur Seite, um sie nicht in Verlegenheit zu bringen, wenn sie ihr Bein ausstreckte.
Valerie riss ihm den Flipflop aus der Hand. »Was reden Sie da?«, fragte sie voller Argwohn. »Kennen Sie meine Tochter?«
Er wich einen Schritt zurück und richtete sich wieder auf. »Sie wohnen über mir, Frau Braq. Haben Sie das noch nicht gemerkt?«
»Natürlich …«
Luzius ergriff den Lenker seines Fahrrads. »Sheila kennt mich, und ich kenne Sheila. Das lässt sich nicht vermeiden, wenn man sich ab und zu über den Weg läuft. Hier im Treppenhaus zum Beispiel. Oder auf der Straße.«
Er klang gekränkt. »Entschuldigen Sie.« Valerie hatte sich wieder gefasst. »Ich wollte nicht unhöflich sein. Danke für die Post.«
»Keine Ursache«, antwortete Luzius. Er öffnete die Haustür und schob sein Rad hinaus. »Gute Nacht.«
Was für eine peinliche Situation, dachte sie und ging zurück in ihre Wohnung. Goodens war wirklich harmlos, sogar hilfsbereit. Sie hatte reagiert wie eine alte Jungfer. Kopfschüttelnd machte sie sich einen Tee. Wenn sie ihr Misstrauen nicht ablegte, kämen die Menschen gar nicht mehr mit ihr klar. Immerzu die Krallen ausfahren. Das ermüdete.
Sie zog ein dickes Winternachthemd an und wärmte sich vor dem Fernseher auf. Als ihr wieder einfiel, was sie ursprünglich vorgehabt hatte, eilte sie zum Fenster. Von Mattes war nichts mehr zu sehen.
5. Dezember
Das Briefing, wie Himmerich es nannte, war für elf Uhr angesetzt. Raupach kam etwas früher. Es konnte nicht schaden, den Überblick über neue und alte Kollegen zu behalten. Er stellte sich mit seinem Kaffeebecher hinter eine Betonsäule und verfolgte das Geschehen.
Es war wie bei einer Pressekonferenz, nur dass die Presse ausgeschlossen war. Himmerich tippte auf seinem Handy herum, als gelte es eine komplizierte Rechenaufgabe zu lösen. Seine schmale Brille war nach vorn gerutscht und saß auf dem Rücken einer langen schnurgeraden Nase. Dann studierte er Zeitungen. Aufgrund der Blockbuchstaben und des leicht bekleideten Mädchens, das auf der aufgeschlagenen Seite zu sehen war, vermutete Raupach, dass Himmerichs Informationsquellen nicht besonders seriös waren. Je mehr die Leute in der Öffentlichkeit standen, dachte er, desto weniger differenzierten sie.
Heide traf als Letzte ein. Sie wechselte ein paar Worte mit Paul Wesendonk. Ihre Blicke sagten mehr. Du und ich, ich und du. Er wirkte in seiner Motorradkombi recht eindrucksvoll. Dann setzte sie sich nach vorn zu den anderen Hauptkommissaren. Woytas, Lieverscheidt und die Leiter der verschiedenen Kölner Mordkommissionen saßen dort, außerdem ihre Stellvertreter und eine Reihe anderer hoher Tiere, Vorderbrügge von der Gefahrenabwehr, Riedel vom Kommissariat »Vorbeugung Kriminalität« und Trautmann von STEP, einer Sondereinheit des »Staatsschutzes gegen Extremismus durch Prävention«. Von den mittleren und unteren Dienstgraden, die ausdrücklich geladen waren, hatten sich nur ein paar Beamte aus den Freischichten und einige Personalräte aufgerafft.
Raupachs Verbündete waren überall im Raum verteilt. Onkel Osterloh zwinkerte ihm verschwörerisch zu. Heide warf ihm über die Schulter einen grüßenden Blick zu. Selbst
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