Der Vierte Tag
Zeit, dass ich meine kleinliche Bösartigkeit gegenüber Zentis kurz begründe: Ich mag ihn nicht. Schon seit unseren gemeinsamen Anfängen in der Medizin, er in der Pathologie, ich bei den Kindern. Außerdem taugt er nichts als Arzt, unter anderem, weil er sich die Facharztanerkennung für Innere Medizin erschlichen hat. Tatsächlich hat er die gesamten fünf Jahre, die für die Fortbildung zum Internisten vorgeschrieben sind, im Herzkatheterlabor verbracht. Ein Geschenk des Himmels für jeden Chefarzt, der damit der zeitraubenden Notwendigkeit enthoben ist, alle paar Monate einen neuen Kollegen in eine Spezialfunktion einzuarbeiten.
Zentis hingegen hat gar nicht gemerkt, dass er verschaukelt wurde, sondern schritt mit stolzgeschwellter Brust als selbsternannter König der Herzkranzgefäße durch die Klinik. Nach den fünf Jahren in den Herzkranzgefäßen hat unser damaliger Chef, Professor Kindel, ihm dann die vorschriftsmäßige Ausbildung zum Internisten bescheinigt und sich in ein gemütliches Pensionisten-Dasein aus der Klinik verabschiedet.
Kaum hatte Zentis die Facharztanerkennung in der Tasche, wollte er mindestens Oberarzt in der Inneren Abteilung werden. Als ihm das mangels tatsächlicher Qualifikation verwehrt wurde, verabschiedete er sich ebenfalls. Als niedergelassener Arzt würde er uns sowieso alle in die Tasche stecken, meinte er, er hätte schon Angebote von jeder Menge Praxen. Was eventuell der Wahrheit entsprach, aber nie zu der erstrebten Partnerschaft führte, da sich die prospektiven Kollegen natürlich über ihn erkundigten und dann dankend auf seine Mitarbeit verzichtet haben.
Diesem Rückschlag folgte ein Gastspiel in einer anderen Klinik, die er schon bald unter ungeklärten Umständen verlassen musste und danach sofort mit Anzeigen wegen angeblicher Fehlbehandlungen überzog. Obgleich keine seiner Klagen zu etwas führte, hatte er seine Bestimmung gefunden. Er wechselte endgültig die Fronten und begab sich in den sicheren Schoß der Krankenkassen, nämlich zu deren sogenanntem medizinischem Dienst.
Das gab ihm zwei Vorteile: Zum einem hatte er dort genug Zeit, alle Kollegen, die ihn als Partner abgelehnt hatten, mit Klagen und Regressforderungen wegen angeblicher Abrechnungs- oder Behandlungsfehler zu überziehen. Zum anderen erkannte er schnell, dass auch das Management der Krankenkassen zum großen Auffangbecken für gescheiterte oder abgewählte Politiker gehört, und man sich mit entsprechenden Artigkeiten Zutritt zu den örtlichen politischen Entscheidern verschafft. Die wurden schnell auf Zentis aufmerksam, kam er ihnen doch mit immer neuen Ideen und Expertisen zur Kosteneinsparung und zum Bettenabbau in den Berliner Krankenhäusern entgegen. Als man dann die bisher städtischen Kliniken für einen Euro wenigstens formal privatisierte, wurde dazu die Vitalkliniken GmbH gegründet, mit Herrn Hirt, dem ehemaligen Geschäftsführer einer großen gesetzlichen Krankenkasse, als "Vorsitzenden der Geschäftsführung". Und der hat uns den guten Zentis als Chefarzt in die Abteilung gesetzt.
Oder bin ich ein frustrierter Spießer, der eifersüchtig ist, weil, obwohl wir fast gleichzeitig unsere Arztkarriere begonnen haben, Zentis inzwischen Chefarzt ist und ich nicht?
In meine Gedanken hinein schrillt das Telefon. Der Blinde bedeutet Renate abzuheben.
Ihren Antworten können wir entnehmen, dass jemand wissen möchte, ob sie die Geiselnehmerin ist – nein, ob es uns gut geht - den Umständen entsprechend, ob die Patienten versorgt werden - darüber hätten wir gerade gesprochen.
"Es ist die Polizei. Sie möchte mit Ihnen sprechen."
"Fragen Sie, was die wollen."
Renate gibt die Frage weiter.
"Die möchten mit Ihnen selbst sprechen."
"Sagen Sie denen, dass ich zurzeit beschäftigt bin, Sie mir aber alles weitergeben werden."
"Man möchte wissen, was Sie vorhaben, ob Sie Forderungen stellen und welche."
"Sie kennen die Antwort, Schwester Renate."
Einen Moment scheint Renate irritiert, dann versteht sie.
"Ich soll Ihnen ausrichten, dass Sie das früh genug erfahren werden", sagt sie ins Telefon.
Der Blinde lächelt.
"Ich denke, Sie können jetzt auflegen."
Vor meinem geistigen Auge sehe ich einen ziemlich frustrierten Polizeipsychologen. Wie soll er seine Kenntnisse aus dem Handbuch "Polizeitaktisches Vorgehen bei Geiselnahme" anwenden, wenn der Geiselnehmer nicht selbst mit ihm spricht? Wahrscheinlich liest er dazu jetzt nach.
Mit Sicherheit hat die Polizei ein weiteres
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