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Der Vierte Tag

Der Vierte Tag

Titel: Der Vierte Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Spielberg
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Problem. Die Intensivstation eines Krankenhauses als Ort für eine Geiselnahme ist keine so schlechte Idee, muss man doch bei jeder Entscheidung die Patienten berücksichtigen. Das schließt die üblichen Mittel polizeilicher Zermürbungstaktik wie das Abstellen von Strom und Wasser schon einmal aus. Ein Sturm mit Blendgranaten und Knallkörpern mit Weltuntergangskrach ist auch nicht drin. Und falls die Berliner Polizei, was ich nicht glaube, sich inzwischen von den Russen eine Probe von deren Narkosegas für Tschetschenen und unbeteiligte Theaterbesucher besorgt hat, ist das hier bestimmt nicht der Ort für seine Ersterprobung in Deutschland.
    Bald aber wird die Öffentlichkeit informiert sein, und mehr noch als bei Geiselnahme in einer Bank oder einem Politiker als Geisel wird der Druck, endlich etwas zu tun, enorm werden. Wir können nur auf einen sehr geduldigen Polizeipsychologen hoffen. Und darauf, dass sein Vorgesetzter nicht nur die gleiche Geduld, sondern auch eine Menge Leidensfähigkeit zeigen wird.
    Für uns ist im Moment jedoch die Drohung, dass es für jeden versterbenden Patienten einen toten Arzt geben würde, die aktuellere Sorge. Zentis bringt es auf den Punkt.
    "An der Heizung angekettet können wir keine Patienten versorgen."
    "Da haben Sie recht."
    Ich beginne, Vertrauen in unseren Geiselnehmer zu fassen, denn er zeigt sich auch auf dieses Problem vorbereitet. Wenn ich auch an seiner Problemlösung kaum Gefallen finde.
    Wieder kramt er in seinem Rucksack und zaubert vier Ledergürtel hervor. Und an diesen Ledergürteln sehe ich kleine Päckchen, etwas kleiner, aber nicht unähnlich denen, die Renate vorhin über die Intensivstation verteilt hat.
    "Schwester Renate wird Ihnen nun diese Gürtel umlegen und dann Ihre Handschellen lösen. Sie brauchen übrigens keine Angst vor Erschütterungen oder einem Sturz zu haben. Das Gerät für den Zündbefehl trage ich bei mir. Das allerdings reagiert unter anderem auf Erschütterungen."
    Was bedeutet, dass wir mit unserem blinden Geiselnehmer sehr vorsichtig umgehen müssen. Zum Beispiel sollte er über keines unserer teuren Geräte hier stolpern. Am liebsten würde ich ihn in eines unserer freien Betten legen, während wir uns als wandelnde Zeitbomben um die Patienten kümmern. Aber so weit sind wir noch nicht, erst einmal muss Chefarzt Zentis mal wieder den Helden spielen.
    "Wir denken nicht daran, auch nur einen einzigen Patienten zu versorgen, solange Sie uns bedrohen!"
    Wen meint er mit "wir"? Mich jedenfalls hat Zentis vor diesem heroischen Statement nicht konsultiert. Ich hoffe, der Blinde kann im Zweifelsfall diese Sprengpäckchen an den Gürteln auch einzeln zünden. Jedenfalls wendet er sich mit traurig enttäuschter Stimme an Zentis.
    "Was ist mit Ihrem Eid, Herr Doktor? Diesem demokratischen Eid? Haben Sie sich nicht verpflichtet, jedem und unter allen Umständen zu helfen?"
    Da ist er wieder, der berühmte hippokratische Eid. Immer gerne bemüht, zuletzt sogar von der Vital-Verwaltung, als es um die Nichtbezahlung unserer Überstunden ging! Ich glaube, die Leute stellen sich so eine Art feierliches Gelöbnis vor, mit Trommeln und Fackeln wie bei der Bundeswehr. Ich habe einmal Dr. Valenta gefragt. Er meinte, vielleicht hätten wir seinerzeit mit der Approbation etwas in der Richtung unterschrieben. Wenn, muss es im Kleingedruckten gestanden haben.
    "Kein Eid dieser Welt verpflichtet mich, Ihren Anweisungen Folge zu leisten", gibt Zentis zu bedenken.
    Mir raunt er zu, dass es langsam Zeit werde, dem Blinden gegenüber "Flagge zu zeigen". Die ersten Minuten seien die entscheidenden bei einer Geiselnahme. Was stimmen mag, aber diese ersten Minuten, fürchte ich, sind lange verstrichen.
    "Du meinst die Minuten, als du versucht hast, dich auf weißen Arztsocken aus dem Staub zu machen?"
    Wahrscheinlich wäre es sinnvoller, meinen Frust gegen den Geiselnehmer zu wenden. Aber Zentis fördert einfach meine miesesten Instinkte zu Tage. Und davon habe ich eine ganze Menge.
    "Und was ist mit Ihnen?" fragt der Blinde nun in die Runde. "Schließen Sie sich Ihrem Herrn Chefarzt an? Wollen auch Sie die Ihnen anvertrauten Patienten sterben lassen?"
    Aus den Augenwinkeln erkenne ich, dass man auch in Bett eins und zwei gespannt auf unsere Antwort wartet. Schwester Renate, Schwester Käthe und Dr. Hoffmann schweigen, was man so oder so auslegen kann. Der Blinde nimmt es als Unterstützung seiner Position und beendet die fruchtlose Debatte.
    "Schwester Renate.

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