Der Vierte Tag
Dank. Es wird schon gut gehen."
Käthe legt auf.
Renate hat inzwischen ein neues EKG bei Herrn Sauerbier geschrieben - Befund unverändert unauffällig - und die Infusionen an Bett vier ausgewechselt. Mit der Erlaubnis des Blinden gibt sie telefonisch unsere Wunschliste für die Patienten an die Apotheke und die Blutbank weiter. Auch sie versichert, dass wir gut behandelt werden und man sonst im Moment nichts für uns tun könne.
"Ist dann soweit alles getan für die Patienten?" fragt der Blinde.
Wir bestätigen. Und ich erwarte, dass somit die Handschellen wieder an der Reihe sind. Als davon nicht die Rede ist, fasse ich Mut.
"Ich müsste auch telefonieren."
"Mit wem?"
"Mit meiner Freundin Celine. Wir sind verabredet. Ich bin nach meinem Nachtdienst nicht nach Hause gekommen. Sie wird sich Sorgen machen."
Jedenfalls hoffe ich das. Trotz unseres blöden Streits von vorgestern.
"Wissen Sie, Dr. Hoffmann, ich habe mir in den vergangenen Tagen sehr viel Sorgen gemacht. Vielleicht ist das manchmal notwendig, um Dinge klarer zu sehen."
Na toll, unser Blinder ist auch noch ein Philosoph! Oder Berater für Beziehungskrisen. Erst jetzt fühle ich mich als Geisel, komme mir endgültig hilflos und entrechtet vor.
"Außerdem", fährt er fort, "dürfte Ihre Freundin längst informiert sein. Ich wette, wir sind auf jedem Fernsehkanal. Soviel ich weiß, haben Sie hier einen Fernsehapparat. Stellen Sie den doch mal an."
Erneut zeigt sich, wie gut der Blinde auf unserer Intensivstation Bescheid weiß. Oder, eine neue Idee, hat er einen Komplizen unter uns? Zum Beispiel Renate, die als einzige von uns nicht an die Heizung gekettet war? Dazu müsste man sein Motiv wissen, endlich erfahren, was er eigentlich will.
Bei meinem Glück geht es wahrscheinlich um den Abzug der Israelis von der Westbank oder, ein ähnlich leicht zu erfüllender Wunsch, um die Abschaffung der Todesstrafe in den USA. Diese Forderungen sprächen allerdings eher für meine Freundin Celine als Komplizin, Renate dürfte sich kaum für die Westbank interessieren. Eines jedenfalls steht fest: Für einen Uneingeweihten ist es auf der Intensivstation angesichts der vielen Monitore kaum möglich zu erkennen, ob einer davon tatsächlich ein ganz normaler Fernsehapparat ist. Eine natürlich auch wieder unerhebliche Überlegung, falls der Blinde wirklich blind ist.
Käthe stellt den Fernseher an, er ist wie üblich mit abgeschaltetem Ton auf n-tv eingestellt. Intensivchef Dr. Valenta, wie gesagt zur Zeit im Urlaub, kann so ohne Probleme neben den Patienten und ihren Vitalwerten auf den Überwachungsmonitoren auch die aktuellen Börsenkurse auf n-tv im Auge behalten. Valenta ist als fast süchtiger day trader überzeugt, irgendwann doch noch seine Verluste nach dem großen Zusammenbruch wettzumachen, vernachlässigt aber dabei nie seine medizinischen Aufgaben.
Tatsächlich! "Geiselnahme auf der Intensivstation in einem Berliner Krankenhaus" läuft als aktuelle Textmeldung am unteren Bildschirmrand, noch unter den Aktienkursen. Im Bild fliegen gerade ein paar Autos in die Luft und eine Menge Menschen, Inder oder Pakistani scheint mir, rennen um ihr Leben. Da geht’s uns noch richtig gut!
Käthe schaltet um auf RTL, hier strahlt uns tatsächlich die Humana-Klinik entgegen.
Ein riesiges Polizeiaufgebot hat sich um unser Gebäude versammelt! So schlimm kann der Personalmangel bei der Polizei dann wohl doch nicht sein, diese Armee aus Mannschaftswagen und gepanzerten Fahrzeugen ist überwältigend. Natürlich fehlen der Polizei bisher verlässliche Informationen, es könnte sich ja auch der komplette Al-Qaida-Vorstand bei uns versammelt haben. Jedenfalls wäre jetzt eine gute Gelegenheit, irgendwo in Berlin eine Bank auszunehmen. Schade, dass ich zurzeit verhindert bin.
Der Reporter von RTL kommt ins Bild, ein junger Mann mit Gel im Haar, Knopf im Ohr und Mikrophon vor dem Mund. Käthe stellt den Ton an.
"Kennen Sie den Namen des Geiselnehmers, hat er gesagt, wer er ist und was er will?"
"Nein. Wir wissen weder seinen Namen noch seine Forderungen."
Kein Schwenk auf den Interviewten, dessen Stimme eigenartig gequetscht klingt. Doch die Stimme kommt mir bekannt vor. Gespannt hören wir weiter zu. Auch unser Blinder.
"Was können Sie uns sonst über den Geiselnehmer sagen?"
"Er ist bis an die Zähne bewaffnet, ein ganz Gefährlicher. Überall ist Sprengstoff verteilt. Uns hat er auch Sprengstoff umgebunden. Außerdem hält uns ein bissiger Hund in Schach
Weitere Kostenlose Bücher