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Der Vierte Tag

Der Vierte Tag

Titel: Der Vierte Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Spielberg
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Brötchen während der Morgenkonferenz hat es bisher nicht gereicht. Und meine Mitgeiseln sind bestimmt auch hungrig, haben wir doch vorhin Dr. Krämer mit unserem Mittagessen weggeschickt. Das könnte eine neue Chance für uns sein. Ich wende mich an den Blinden.
    "Herr Sauerbier hat recht. Wir sollten für alle etwas zum Essen kommen lassen."
    Der Blinde denkt nach, wägt offensichtlich das Risiko eines im Gulaschtopf versteckten Sonderkommandos gegen seinen oder unseren Hungertod ab.
    "Haben Sie denn hier nichts vorrätig?"
    "Nein, das Essen kommt aus der Zentralküche."
    "Zur Not haben wir noch Reste in unserer Teeküche", bemerkt Renate und bringt uns damit sowohl um eine frische Pizza, die beliebte Geiselnahrung, als auch um eine eventuelle Verhandlungsposition. Und sich selbst wieder auf meine Liste möglicher Komplizen.
    Wir untersuchen gemeinsam mit dem Blinden die Teeküche auf Essbares. Es stellt sich heraus, dass Schwester Patricia von der Nachtschicht Geburtstag gehabt hat, es ist reichlich Erdbeer- und Stachelbeertorte übriggeblieben, Schlagsahne aus der Sprühdose auch. Daneben gibt es noch eine angebrochene Packung original schwedisches Knäckebrot und einen Rest rote Grütze in einer Tupperdose. Zu unserer Überraschung findet sich hinter dem Kaffee sogar eine Dose Hundefutter. Keine Ahnung, wie die da hingekommen ist.
    "Dosenfutter? Auf keinen Fall! Haben Sie eine Ahnung, was die da alles reintun!" protestiert der Blinde.
    Habe ich nicht. Ich weiß nur, dass fast zehn Jahre bevor die EU wegen BSE die Rindfleischimporte für den menschlichen Verzehr aus England stoppte, die Tierfutterindustrie schon kein Rindfleisch mehr aus England in ihre Dosen abgefüllt hat. Aber der Blinde hat trotzdem kein Vertrauen zur Haustierfutterindustrie und zaubert stattdessen eine Frischfleischmahlzeit für den Hund aus seinem unerschöpflichen Rucksack.
    "Geben Sie mir mal einen Teller."
    Unter Missachtung sämtlicher Hygienevorschriften landen so Pansen, Labmagen und Haferflocken in einem Suppenteller und verbreiten einen ziemlich ekligen Geruch. Der Rest der Tüte wandert in den Stationskühlschrank, und ich versuche abzuschätzen, auf wie viele Hundemahlzeiten sich unser Geiselnehmer eingerichtet hat. Zwei sind es mindestens noch.
    Längst steht der Schäferhund aufgeregt neben uns. Sobald der Suppenteller auf dem Küchenboden steht, macht er sich begeistert darüber her.
    Renate hat inzwischen die Kuchenstücke auf eine dieser gestanzten Aluminiumplatten verteilt, die immer von unseren Bestellungen beim Chinesen übrig bleiben. Natürlich bringt sie zuerst Herrn Sauerbier seine Portion, erntet aber keinen Dank.
    "Kuchen? Ich habe Zucker! Da ist Kuchen streng verboten. Das sollten Sie eigentlich wissen."
    So wie er aussieht, scheint er mir das Kuchenverbot sonst nicht so streng zu nehmen. Renate ist von ihm inzwischen ebenso genervt wie ich.
    "Auch gut. Was anderes ist nicht da. Also Kuchen oder nichts. Ein wenig haben Sie ja noch zuzusetzen."
    Auch ich würde Herrn Sauerbier ganz gerne etwas hungern lassen, aber natürlich bricht der Arzt in mir durch.
    "Haben Sie heute Morgen Ihre Zuckertabletten genommen?"
    Herr Sauerbier nickt.
    "Dann essen Sie Ihren Kuchen, sonst landen Sie uns bald in einer Unterzuckerung. Das ist eine ärztliche Anordnung."
    „Und mein Herzkatheter?“
    Na schön, nun muss die Wahrheit raus.
    „Dazu brauchen wir sie nicht unbedingt nüchtern.“
    Vielleicht sind einige seiner unangenehmen Verhaltensweisen in Wahrheit schon einer beginnenden Hypoglykämie geschuldet. Oder er ist einfach von Natur aus ein Stinkstiefel.
    "Schön. Auf Ihre Verantwortung, Doktor!" sagt er und macht sich unverzüglich über sein Stück Erdbeertorte her.
    Endlich können auch wir uns auf den Kuchen stürzen. Wir langen voll zu und sehen relativ entängstigt aus. Das ist der Trick aus der Verhaltenstherapie, den sich auch die Fluglinien zu Nutze machen, wohl wissend, dass die Hälfte ihrer Passagiere eigentlich kein wirkliches Vertrauen zu fliegenden Kinosälen hat: Das Hirn kann nicht in zwei Urzuständen gleichzeitig sein, zur selben Zeit zufrieden über die Stillung des Grundbedarfs Energieaufnahme und ängstlich wegen der 11.000 Meter bis zum sicheren Boden. Also trifft es die vernünftige Entscheidung, sich über das nachlassende Hungergefühl und den ansteigenden Blutzuckerspiegel zu freuen. Da bleibt kein Platz für Angst.
    Unser Geiselnehmer isst langsam und vorsichtig, hat vielleicht Sorge, dass wir ein

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