Der Vierte Tag
wegen angeblich zu früher, zu später oder falscher Behandlung.
Ich erinnere mich an den Dicken vergangene Woche.
"Wir begegnen uns sicher mal anderswo, Doktor. Zum Beispiel in einer dunklen Gasse!" rief er mir zum Abschied zu.
Der Dicke war erzürnt, weil ich ihm geraten hatte, vor seiner Herzoperation einige seiner hundertdreißig Kilogramm abzuschmelzen. Was gut gemeint war, denn insbesondere die postoperativen Komplikationen nehmen mit dem Körpergewicht steil zu. Aber irgendetwas an meiner medizinisch korrekten Warnung hatte mich verraten, denn tatsächlich ärgert es mich, dass die extrem Dicken mit all ihren teuren Folgeproblemen wie Zucker, Hochdruck oder Gicht den gleichen Krankenkassenbeitrag zahlen wie ich. Und im Flugzeug immer neben mir sitzen!
Im Fernsehen fragt der Reporter Beate inzwischen zu den Forderungen des oder der Geiselnehmer.
"Nein, uns sind bisher keine Forderungen bekannt. Aber was immer sie sind, wir werden uns bemühen, sie zu erfüllen."
Diese Antwort war sicher nett für uns gemeint, würde der Polizei aber nicht gefallen. Und sie zeigt, dass Beate eine kompetente Verwaltungsleiterin, aber keine Politikerin ist. Für mich ist im Moment wichtiger, dass Celine wissen dürfte, warum ich nicht, wie verabredet, bei mir zu Hause bin. Entweder aus dem Fernsehen oder direkt von ihrer Freundin Beate. Vielleicht hilft die missliche Situation sogar unserer Beziehungskrise. Wie, denke ich egoistisch-pragmatisch, will Celine mir jetzt noch böse sein? Immer noch steht Zentis neben mir, ein paar Schritte entfernt unser Geiselnehmer. Und da nehme ich aus den Augenwinkeln etwas Interessantes wahr: Wie wir alle schaut auch der Geiselnehmer noch immer aufmerksam auf den Bildschirm.
"Guck doch mal", flüstere ich Zentis zu und deute mit dem Kopf in Richtung Geiselnehmer. "Fällt dir was auf?"
Zentis sieht sich um.
"Was soll mir auffallen?"
Ist Zentis blinder als der Blinde?
"Warum starrt ein Blinder auf ein Fernsehbild, wenn er nichts sieht?"
"Habe ich mir gleich gedacht, dass der nicht wirklich blind ist", mischt sich Schwester Käthe hinter uns ein.
Zentis kommt uns streng wissenschaftlich: "Da wäre ich nicht so sicher. Es ist vollkommen natürlich, dass man den Kopf in Richtung Schallquelle richtet, blind oder nicht."
Ich glaube, es liegt an Zentis' einfacher Denkungsart: Dunkle Brille plus gelbe Armbinde plus schwarze Punkte plus Schäferhund ist gleich Blinder. Meistens ist das in der Medizin auch richtig. Was zum Beispiel bei der Magenspiegelung wie ein Magengeschwür aussieht und blutet wie ein Magengeschwür, ist in der Regel auch ein Magengeschwür, nur die Leute direkt von der Uni denken primär an das Kleingedruckte und tippen auf Leiomyom oder Dermoid. Oder liegt Zentis etwas daran, dass wir weiter an die These "unser Geiselnehmer ist blind" glauben? Ist am Ende er sein Komplize? Überhaupt, wenn unser Geiselnehmer nicht wirklich blind ist, was soll die ganze Maskerade? Sie hat ihm sicher den Zugang zur Klinik und zur Intensivstation erleichtert, aber jetzt sehe ich ihren Sinn nicht mehr.
Herr Sauerbier reißt mich aus meinen bedeutenden Überlegungen: "Ich habe Hunger!"
Ich an seiner Stelle hätte mich nach der Sache mit dem Interview ein wenig zurückgehalten, Zurückhaltung aber scheint Herrn Sauerbiers Sache nicht. Er geht mir ziemlich auf den Keks.
"Sie sollten besser nüchtern bleiben. Es kann immer noch sein, dass wir bei Ihnen einen akuten Herzkatheter machen müssen."
" Herzkatheter? Darüber bin ich noch nicht aufgeklärt worden!"
Natürlich ärgere ich mich über den Kerl. Und wie fast immer, wenn man sich ärgert, weil er ein bisschen recht hat. Trotzdem halte ich es nicht für unbedingt gut, einem mit seiner akuten Erkrankung schon genug gestressten Patienten als Erstmaßnahme einen unserer vielen Aufklärungsbögen vor die Nase zu knallen mit ihrer maliziösen Auflistung, was bei einer notwendigen Untersuchung oder Operation alles schief gehen kann. Was ich aber bei Herrn Sauerbier nun gerne tue und einen "Aufklärungsbogen Herzkatheter" aus dem mit diesen und anderen Bögen reichlich bestückten Fach ziehe.
"Hier. Dann lesen Sie mal schön."
Wie sich gelegentlich auch an mir zeigt, wird mit dem medizinischen Staatsexamen ein ausreichendes ärztliches Wissen, nicht aber unbedingt menschliche Größe bestätigt.
Gnädig nimmt Sauerbier den Aufklärungsbogen entgegen.
"Hunger habe ich aber trotzdem."
Ich eigentlich auch, zu mehr als einem trockenen
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