Der Vierte Tag
die wollen das noch schriftlich befunden", und direkt zu Renate, "dann sehen wir weiter."
Ich blättere im Krankenblatt für die Patientin in Bett vier, das mir für einen so komplexen Fall ziemlich dünn vorkommt und im Grunde nur die hoffnungslose Lage dokumentiert: die Gerinnungswerte im Keller, das giftige Ammoniak im Blut am oberen Anschlag, ebenso das Bilirubin. Die Hepatitis-Serologie ergibt keinen Anhalt für eine ursächliche Leberinfektion.
"Habt ihr irgendeine Vorstellung zur Ursache für das Leberversagen? Irgendeine Vergiftung? Pilze?"
Zentis zuckt mit der Schulter. "Keine Ahnung."
Renate hebt die Augenbrauen. Wieder bin ich sicher, dass mir etwas verschwiegen wird. Aber ich frage nicht nach. Was immer hier medizinisch problematisch sein sollte, geht den neugierigen Geiselnehmer neben uns nichts an.
Käthe hat währenddessen liebevoll die Mundpflege bei der komatösen Frau gemacht, die technisch versierte Renate kontrolliert die Beatmung und nimmt ein paar Änderungen an der Einstellung vor.
Nach der Abendvisite macht sich erneut Eintönigkeit breit. Der größte Teil der Dramatik auf einer Intensivstation entsteht bei der Neuaufnahme von Patienten, das sind die kritischen Minuten, in denen schnell gehandelt werden muss, weil es häufig tatsächlich um Leben und Tod geht. Sind diese kritischen Minuten vorbei, hat der Patient überlebt und ist ein Behandlungskonzept festgelegt, ist die Spannung raus, bleibt nur noch abzuwarten, zu kontrollieren und aufzupassen.
Heute Abend kommt verständlicher Weise niemand auf die Idee, uns neue Patienten zu liefern. So ist nichts mehr zu tun. Mit unserem Status als Geiseln haben wir uns offenbar abgefunden. Offensichtlich können wir Menschen nicht fortwährend Angst haben und gewöhnen uns auch an gefährliche Situationen, selbst an Sprengstoffpäckchen um die Taille. Würde dieser Mechanismus nicht so ausgezeichnet funktionieren, könnte man keine Kriege führen.
Früher haben wir uns Tage oder Nächte ohne Neuaufnahmen mit Tischfußball im Intermediate-Zimmer vertrieben. Die Spielplatte konnten wir bei Bedarf schnell gegen die Wand kippen, aber die Abschaffung des Tischfußballs war eine der ersten Maßnahmen von Zentis als Chefarzt. Wir sollten stattdessen die Computerbögen zur Leistungserfassung, Qualitätskontrolle und Kostenabrechnung ausfüllen, mit denen wir zum Ärger der Verwaltung ständig hinterherhinken. Das war eine ausgezeichnete Idee von Zentis und natürlich unterhaltsamer als Tischfußball.
"Haben wir irgendwo Spielkarten? Oder eine Spielesammlung?" frage ich in die Runde der Geiseln. Unser Wächter beschäftigt sich wie üblich mit seinem Hund, sitzt fast fünf Meter von uns entfernt. Aber wie im trauten Familienkreis sind mit dem Fernseher auch im Krankenhaus Spielesammlungen aus der Mode gekommen.
"Ne, haben wir nicht", antwortet Renate, während sie in einer Fernsehzeitschrift blättert. "Will jemand Emergency Room sehen?"
Keine Begeisterung. Käthe hat eine bessere Idee.
"Wie wär's mit Stadt-Land-Fluss?"
Ich stimme sofort zu, in Stadt-Land-Fluss bin ich dank ungezählter Nachtdienste Profi. Eine Stadt mit X? Xanten, das ist leicht, zugegeben. Land mit Y? Jeder denkt an Libyen, natürlich falsch, aber wie wäre es mit dem Yemen? Und bestehen die Mitspieler auf der deutschen Schreibung "Jemen", komme ich mit der ehemaligen Sowjetrepublik Yakutsien. Stadt mit Q? Quedlinburg, immerhin Weltkulturerbe. Kugelschreiber sind ausreichend da, zum Aufschreiben nehmen wir die Computerbögen aus dem Fach "Qualitätskontrolle". Zentis protestiert nicht, rechnet sich wohl auch gute Chancen beim Spiel aus, oder lernt langsam, Prioritäten zu setzen. Wir bilden einen Kreis auf dem Boden, unserem Wächter schenken wir keine Beachtung.
Die erst Runde geht an Renate. Coburg, Chile und Colorado River verhelfen ihr zum Sieg. Ich war zu spät auf den Fluss Chiao Chi gekommen, nicht auf etwas so Einfaches wie den Colorado. Dafür gewinne ich, mit nur ein wenig schummeln, Runde zwei mit Xanthi, Xanadu und Xingú. Natürlich wird Xingú angezweifelt, ein real existierender Fluss in China, das imaginäre Land Xanadu dagegen geht glatt durch. Immer mal wieder lassen wir Zentis gewinnen, es ist eigentlich ganz gemütlich.
"Ich hoffe, mit meiner Großtante ist alles in Ordnung", denkt Käthe laut.
Spielfilme über eine Geiselnahme vermitteln immer den Eindruck, die Leute hätten ohnehin nichts Besseres vorgehabt. Im Flugzeug mag das noch angehen, eingeklemmt
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