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Der Vierte Tag

Der Vierte Tag

Titel: Der Vierte Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Spielberg
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wägt die Presse das Informationsinteresse der Öffentlichkeit gegen die Interessen der Opfer und Betroffenen sorgsam ab. Sie … lässt sich dabei nicht zum Werkzeug von Verbrechern machen. Interviews mit Tätern während des Tatgeschehens darf es nicht geben.“
    Deutscher Presserat, Richtlinie 11.2: Berichterstattung über Gewalttaten

"Guten Morgen, mein Sonnenschein!"
    Vorsichtig öffne ich das rechte Auge, lasse das linke noch schlafen. Ist es wirklich schon Morgen? Auf der Intensivstation herrscht Tag und Nacht dasselbe Kunstlicht, eine Tag-und-Nacht-Gleiche im wirklichen Sinne des Wortes, und die Fenster kann ich im Moment nicht sehen. Dazu müsste ich den Kopf drehen - geht nicht, der ist vollkommen steif. Wie der Rest meines Körpers.
    Dafür liegt er ganz gut, mein Kopf. In Renates Schoß nämlich, wo es ihm offensichtlich gefällt. Ein Bild, das Celine hingegen, könnte sie es sehen, weniger schätzen dürfte. Wie sie mir ohnehin nicht glauben würde, dass dies meine erste Nacht mit der attraktiven Renate war.
    "Habe ich dich sexuell belästigt?"
    "Leider nicht", scherzt Renate, treu ihrem Ruf in der Klinik.
    Obgleich ihre wilde Zeit vorbei ist, mindestens seit ihrer festen Beziehung zum dicken Dr. Valenta, pflegt sie mit solchen Bemerkungen ein wenig den alten Ruf, wahrscheinlich aus Nostalgie.
    "Wie spät ist es?"
    "Kurz vor halb fünf. Wenn du zum Bäcker gehst, koche ich uns inzwischen Kaffee, Schatz!"
    Schwester Käthe und Chefarzt Zentis scheinen eine Art frühe Morgenvisite zu machen. Im Moment stehen sie bei Herrn Engels an Bett zwei und überprüfen, unter den interessierten Augen unseres Geiselnehmers, den Druck auf der Sengstaken-Sonde.
    "Ist unser Halbblinder inzwischen zum Hilfspfleger aufgestiegen?" frage ich Renate.
    "Mindestens zum Assistenzarzt, würde ich sagen."
    "Scheiß Ärzteschwemme!"
    Jedenfalls habe ich keine entscheidende Entwicklung verschlafen. Weder hat Zentis inzwischen den Kerl überwältigt, noch sind dem - unter Zurücklassung meiner Wenigkeit, schönen Dank! - meine Kolleginnen und mein Kollege entwischt.
    Da Renate und ich im Moment außer Hörweite der anderen sitzen, kann ich endlich eine wichtige Frage loswerden.
    "Zweimal wolltest du gestern an Bett vier etwas sagen, beide Male hat Zentis dich unterbrochen. Worum ging es?"
    "Ausnahmsweise einmal hatte Zentis recht, mir über den Mund zu fahren."
    "Und warum?"
    "Weil es eigentlich beschlossene Sache ist, die sinnlosen Bemühungen an Bett vier herunterzufahren. Bei der Übergabe gestern Morgen hieß es, dass im Lauf des Tages die Beatmung eingestellt werden sollte."
    "Wer hat das entschieden?"
    "Weiß ich nicht. Zentis und die Neurologen wahrscheinlich. Keine Ahnung, Käthe und ich waren ja bis gestern im Urlaub. Aber nach allem, was wir inzwischen wissen, dürfte unser Geiselnehmer das für keine gute Idee halten. Vergiss nicht, warum er dich am Nachmittag fast erschossen hätte: 'Solange ich hier bin, wird kein Patient zu Schaden kommen oder gar sterben'. Er hält Zentis und dich sicherlich für unfähig oder schlimmer, aber was die moderne Medizin betrifft, glaubt er wahrscheinlich noch an Wunder."
    "Oder an die entsprechenden Artikel in den Illustrierten. Trotzdem hat er mich natürlich wegen der 'unwürdigen Apparate-Medizin' beschimpft."
    Renate hebt bedauernd die Schultern, aber so ist es nun einmal. Es gibt Fälle, in denen weder die in jeder zweiten Talkshow besprochene wunderbare Heilkraft von Lindenblütentee, Reflexzonenmassage oder magnetfeldgerechtem Wohnen hilft, noch der Einsatz sämtlicher medizinischer Hightech.
    Schwester Käthe und Zentis haben sich mittlerweile zu Bett vier vorgearbeitet. Gerade überlege ich, ob ich Renate noch zu ihrer Lüge hinsichtlich der angeblichen Verabredung mit Schwester Patricia fragen soll, da bittet Käthe sie um Unterstützung. Die Patientin muss gewaschen und neu gelagert werden. Auf diese Weise sind meines Erachtens genug Leute mit den Patienten beschäftigt, muss ich nicht auch noch mit um die Betten herumstehen. Also strecke ich vorsichtig meine knarrend protestierenden Gelenke, stehe auf und schlurfe ans Fenster zum Innenhof, das nach Osten sieht. Die Fenster zur Straße hat der Geiselnehmer inzwischen verhängt, die zum Innenhof jedoch nicht, weil die Platzierung von Scharfschützen auf dem nur eingeschossigen Klinikanbau gegenüber wenig sinnvoll wäre.
    Die Sonne versteckt sich gerade noch unter dem Horizont, der in einem wunderschönen Feuerrot über Berlin

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