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Der Vierte Tag

Der Vierte Tag

Titel: Der Vierte Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Spielberg
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liegt. Ich liebe diesen Morgenblick über die Stadt, er ist für mich eine der wenigen Freuden am Nachdienst. Ich denke dann an die Menschen, die mit mir durch die Nacht gewacht haben, von Berufs wegen, oder, weil der Schlaf nicht kommen wollte. Der Morgen ist für viele dieser Menschen eine Erlösung, denn es ist leichter, gemeinsam durch den Tag als alleine durch die Nacht zu kommen. Auch unsere Patienten kämpfen tagsüber tapfer gegen den Schmerz, aber nachts holt sie die Angst ein, meinen sie zu spüren, wie sich die Bakterien oder Metastasen langsam, aber unerbittlich im Körper ausbreiten. Für uns alle ist das Morgenrot ein Freund. Außerdem ist das Morgenrot über Berlin genau so schön wie über den Malediven, auch wenn es hier weniger beachtet wird.
    Dann schaue ich auf den Innenhof der Humana-Klinik. Im Verwaltungstrakt hängen Fotos aus den ersten Jahren der Klinik, als der Innenhof sowohl der Erbauung der Patienten wie auch dem Anbau von Heilpflanzen diente. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg zeigen die Bilder seine Nutzung als Kartoffelacker und Weide für die klinikeigene Milchkuh. Inzwischen ist wenig zur Erbauung oder ernährungsergänzenden Nutzung zu erkennen, die Klinik ist auch ohne durchgreifende Sanierung eine Dauerbaustelle, und der Hof dient zur Zwischenlagerung von Bauschutt und als Materiallager. Ein trauriger Anblick.
    Direkt unter mir erkenne ich das immer noch nicht reparierte Dach des Schuppens, auf das neulich - Glück im Unglück - der Fensterputzer mitsamt dem gebrochenen Fensterkreuz gestürzt ist. Es war nicht leicht gewesen, ihn aus dem Dach zu befreien, ohne ihm dabei noch weitere Knochen zu brechen, aber das Dach hatte ihm das Leben gerettet oder zumindest vor einer Querschnittslähmung bewahrt.
    Plötzlich rauscht ein Schatten am Fenster vorbei abwärts, gefolgt von einem dumpfen Aufprall, dann gleich noch ein Schatten und noch ein Aufprall. Gleichzeitig splittert das Fenster links neben dem, durch das ich eben noch den Hof und den heraufziehenden Morgen beobachtet habe. Ein stahlbehelmter und dunkelblau vermummter Typ segelt samt Halteseil zu uns hinein, am Ende des Seils hängen Reste eines Fensterkreuzes. Unten im Hof schlägt derweil seine Maschinenpistole auf dem Pflaster auf.
    Sofort steht unser Geiselnehmer mit zwei Meter Sicherheitsabstand neben dem Vermummten, seine Pistole zielt auf dessen Gesicht und Hals. Wieder fällt mir auf, dass der Mann entweder aus der Branche kommt oder wenigstens seine Hausaufgaben gemacht hat: Ich hätte in Richtung Bauch oder Brust gezielt, wegen der besseren Trefferchance bei größerer Fläche, aber sicher sind diese Bereiche durch eine Kevlar-Weste geschützt.
    "Lassen Sie das!" warnt unser Geiselnehmer in Richtung SEK-Mann.
    Dieser ist gerade dabei, sich an das rechte Bein zu fassen. Dort sind mehrere Taschen in seine Hose eingenäht, und der Geiselnehmer dürfte dort zu Recht Ersatzwaffen vermuten.
    Eigentlich ist die Warnung unnötig. Längst ist der Schäferhund zur Stelle und fletscht die Zähne, gnadenlos bereit zum Zubeißen, sollten sich die Hände des Polizisten auch nur noch einen Angström weiter bewegen.
    "Aber mein Bein tut so weh", jammert der SEK-Mann. "Ich glaube, es ist gebrochen!"
    Ein Trick? Unser Geiselnehmer geht auf Nummer sicher.
    "Schauen Sie sich das bitte an, Dr. Hoffmann. Aber vorher helfen Sie unserem Freund, Stiefel und Hose auszuziehen. Und das bitte schön langsam!"
    Käthe und ich machen uns gemeinsam an die Arbeit. Zuerst zerschneiden wir mit einer Verbandsschere die Hosen und können so zumindest einen offenen Bruch ausschließen. Dann, mit dem jetzt besseren Überblick, schnüren wir die Stiefel auf, um sie ihm vorsichtig abzustreifen. So gut wie möglich untersuche ich auf gebrochene Knochen oder innere Verletzungen.
    Ich bin noch mit dem jungen Beamten beschäftigt, da gibt Zentis auf einmal eine Erklärung ab.
    "Ich verurteile diese uns alle gefährdende Aktion aufs schärfste! Sie dürfen mir glauben, wir haben mit dieser Operation nichts zu tun."
    Was sollte das nun wieder? Es hätte ihm sowieso niemand abgenommen, dass er die Polizeiaktion organisiert hat. Was für ein aufgeblasener Wichtigtuer!
    Vom Hof dringt inzwischen der Widerhall hektischer Aktivitäten zu uns herauf: Befehle, Schreie, der Lärm einer Motorsäge. Hoffentlich hat das Bretterdach der Baubude auch die Kollegen unseres neuen Patienten vor Schlimmerem bewahrt. Hat denn niemand die Polizei über unsere maroden Fenster informiert?

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