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Der Vierte Tag

Der Vierte Tag

Titel: Der Vierte Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Spielberg
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in einen Flüsterton zurück: "Trotzdem. Sobald der nur einmal die Augen zumacht, müssen wir handeln!"
    Mittlerweile bereue ich meine Bemerkung über die Pistole, zumal sie nicht wirklich ernst gemeint war.
    "Deine Vorschläge zu heroischen Aktionen scheinen mir nicht viel weniger irre als unser Geiselnehmer. Was ist, wenn er uns alle in die Luft jagt?"
    Zentis ist beleidigt. "Ich spreche nicht von heroischen Aktionen. Ich sage nur, dass wir unsere Chance bekommen werden. Und dann heißt es auf durch die Tür und raus hier!"
    Vor meinem geistigen Auge sehe ich uns als kopflose Hammelherde durch die Gänge der Humana-Klinik flüchten, hinter uns der Geiselnehmer als schnaubender Bulle. Haben wir die Patienten einfach ihrem Schicksal überlassen? Wahrscheinlich! Aber das Bild der flüchtenden Hammelherde drängt – auch wegen des vertrauten Kribbelns jetzt an der Brust, nicht mehr am Oberschenkel - einen anderen Gedanken in den Vordergrund: Meine Freundin Celine und ihre für heute nacht geplante Befreiungsaktion in der Zuchtstation für Versuchstiere. Dabei fällt mir ein, wer außer ihr zum Kernteam dieser ziemlich militanten Tierschützer gehört, und ich frage mich, warum Renate uns bezüglich ihrer angeblichen Pläne für heute Abend nicht die Wahrheit erzählt hat. Wenigstens will ich klären, ob sie tatsächlich gelogen hat, und melde mich zum Toilettengang.
    Dafür hat sich inzwischen ein festes Ritual eingespielt: Wir melden uns höflich, der Geiselnehmer genehmigt. Im Gegensatz zu ihm dürfen wir die Toilettentür schließen, wenn auch nicht verriegeln. Während einer von uns in der Toilette verschwunden ist, hält der Geiselnehmer in der Regel die übrigen Geiseln mit seiner Pistole in Schach.
    Ich halte mich an die Spielregeln, also Tür zu, aber nicht verriegeln, und bringe mein menschliches Bedürfnis so schnell wie möglich hinter mich. Dann ziehe ich die Ursache für das Kribbeln im Brustbereich aus der Brusttasche des Besucherkittels, den ich seit meiner Fast-Exekution und dem kleinen Missgeschick unmittelbar danach trage. Kein Wunder, dass der Geiselnehmer Celines altes Handy nicht entdeckt hat. Es ist so ein Designerstück, eine runde Scheibe zum Aufklappen, und erinnert eher an eine elegant gestylte Monatspackung für Antikonzeptiva als an ein Telefon. Wahrscheinlich wegen dieser Assoziation hat Celine es ausrangiert und mir übereignet. Und nun versucht sie seit Stunden, mich zu erreichen. Deshalb hatte es, solange ich noch meine Arzthose angehabt hatte, fast ständig durch die Tasche am Oberschenkel gekribbelt, jetzt an der linken Brust.
    "Kannst du frei sprechen?" ist Celines erste Frage.
    "Ja, aber nicht lange. Kannst du mich hören?"
    Ich wette, das ist nicht ganz einfach für Celine. Denn ich flüstere so leise, dass ich mich selbst kaum verstehe, und betätige außerdem immer wieder die Spülung.
    "Wie kann ich dir helfen?" kommt Celines nächste Frage.
    "Ich fürchte, überhaupt nicht", flüstere ich zurück.
    "Aber irgend etwas müssen wir doch für euch tun! Wir können unter diesen Umständen doch nicht einfach weitermachen wie geplant!"
    "Im Gegenteil", antworte ich Celine, "diese Nacht ist ideal, denn als Extrabonus für euch dürfte die gesamte Polizei in Berlin und Brandenburg um die Humana-Klinik herumlungern. Also schlagt los, genau, wie ihr es geplant habt!"
    Geplant war, soweit ich wusste, etwa zweihundert Beagles, dreihundert Katzen und einige Tausend Mäuse aus einer Aufzuchtstation für Versuchstiere zu befreien. Ein logistisch äußerst schwieriges Unternehmen, reicht es doch nicht, einfach die Käfiggitter durchzusägen. Celine und ihre Freunde hatten lange daran gefeilt, wie sie die Tiere transportieren und wo sie dann untergebracht werden sollen. Diese Sache war der Grund unseres heftigen Streits gewesen, bei der ich Celine als Tierschutzterroristin bezeichnet hatte.
    Es braucht noch eine Weile und weitere Klospülungen, Celine davon zu überzeugen, dass sie ihr "Projekt Tier-KZ" durchziehen soll, hier jedenfalls nicht helfen kann.
    Dann komme ich zu meiner Frage: "Ist Patricia auch bei euch?"
    "Na klar, was denkst du!" schreit mir Celines Freundin und Co-Tierschutzaktivistin Patricia, die offenbar mitgehört hat, ins Ohr.
    "Dann wünsche ich euch viel Glück!"
    Ich warte keine Antwort ab, unterbreche die Verbindung und spüle ein letztes Mal.
    Jetzt ist sicher, dass Renate uns vorhin über ihre Pläne für heute Abend belogen hat. Aber warum? In meiner Liste möglicher

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