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Der vierzehnte Stein

Der vierzehnte Stein

Titel: Der vierzehnte Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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fort. »Extrembedingungen, nicht gerade der richtige Zeitpunkt für Respekt. Und ich würde es immer bedauern, wenn ich’s nicht verstanden hätte.«
    »Extrembedingungen, also gut, einverstanden. Was jeder in der Brigade rühmte, brachte mich auf. Diese gelassene Art, mit der Sie als einsamer Spaziergänger die Fälle lösten, als Träumer, der genau ins Schwarze trifft. Einzigartig, gewiß, aber ich sah auch die Kehrseite, diese Art, seelenruhig von Ihren inneren Gewißheiten überzeugt zu sein. Eine Autonomie im Denken, ja, aber auch versteckte Überlegenheit, die ohne das Denken der anderen auszukommen meint.«
    Retancourt hielt inne, zögerte, ob sie fortfahren sollte.
    »Reden Sie weiter«, bat Adamsberg.
    »Wie alle anderen auch bewunderte ich Ihre Intuition, nicht jedoch dieses Desinteresse, zu dem Sie sich berechtigt glaubten, nicht diese Art, die Meinungen Ihrer Mitarbeiter zu übergehen, ihnen nur zur Hälfte zuzuhören. Nicht diese sorglose Isolation, diese fast undurchdringliche Gleichgültigkeit. Vielleicht drücke ich mich nicht gut aus. Die Dünen in der Wüste sind beweglich, und ihr Sand ist weich, aber für den, der sie durchquert, ist sie unfruchtbar. Der Mensch weiß das, er durchschreitet sie, aber er kann nicht dort leben. Die Wüste ist nicht sehr freigebig.«
    Adamsberg hörte ihr aufmerksam zu. Trabelmanns harte Worte kamen ihm wieder in den Sinn, und diese Überein-Stimmung verknäulte sich zu einem Schatten, der mit dunklem Flügelschlag durch seine Stirn schoß. Allein sich selbst folgen, die anderen beiseite schieben, sie verwechseln, diese ihm so fernen, austauschbaren Gestalten, deren Namen er durcheinanderbrachte. Und dennoch war er überzeugt davon, daß der Commandant sich irrte.
    »Das sieht mir ganz nach einer traurigen Geschichte aus«, sagte er, ohne den Blick zu heben.
    »Ziemlich. Aber vielleicht waren Sie schon immer ein wenig woanders und weit entfernt, in Raphaëls Gesellschaft, mit dem Sie einen geschlossenen Kreis formten. Ich habe im Flugzeug darüber nachgedacht. In dieser Cafeteria, da bildeten Sie beide einen Kreis, der andere ausschloß.«
    Retancourt malte einen Ring auf den Tisch, und Adamsberg furchte seine gezupften Brauen.
    »Einen Kreis mit Ihrem Bruder«, erklärte sie, »um ihn niemals wieder zu verlassen, um ihn auf seiner Flucht pausenlos zu unterstützen. Auch in der Wüste.«
    »Im Morast der Torque«, schlug Adamsberg vor und malte langsam einen weiteren Ring.
    »Wenn Sie wollen.«
    »Was lesen Sie sonst noch in meinem ganz persönlichen Buch?«
    »Daß Sie aus denselben Gründen auch auf mich hören sollten, wenn ich sage, daß Sie nicht getötet haben. Um zu töten, muß man zumindest erregt sein über die anderen, muß man sich von ihren Stürmen mitreißen lassen, ja sogar besessen sein von dem, was sie darstellen. Töten erfordert eine Störung dieser Verbindung, ein Übermaß an Reaktion, eine Verwirrung in bezug auf den anderen. Eine derartige Verwirrung, daß der andere als solcher gar nicht mehr existiert, sondern ein Eigentum geworden ist, das man als Opfer gebrauchen kann. Ich glaube, das trifft auf Sie nicht zu. Ein Mensch wie Sie, der stets ausweicht und ohne wirklichen Kontakt bleibt, tötet einen anderen nicht. Weil er ihm dafür nicht nah genug ist, schon gar nicht, um ihn seinen Leidenschaften zu opfern. Ich sage nicht, daß Sie überhaupt niemanden lieben, aber Noëlla – nein. Auf keinen Fall hätten Sie sie umgebracht.«
    »Reden Sie weiter«, wiederholte Adamsberg, die Hand an die Wange gepreßt.
    »Sie verschmieren Ihr Make-up, um Gottes willen. Ich habe Ihnen doch gesagt, Sie sollen da nicht hinfassen.«
    »Verzeihung«, sagte Adamsberg und nahm seine Hand weg. »Fahren Sie fort.«
    »Das ist alles. Wer immer nur von fern streichelt, ist nicht nah genug, um zu töten.«
    »Retancourt«, begann Adamsberg.
    »Henriette«, berichtigte der Lieutenant. »Passen Sie doch, verdammt noch mal, auf.«
    »Henriette, ich hoffe, daß ich Ihnen eines Tages ebenso helfen kann, wie Sie mir geholfen haben. Doch glauben Sie zunächst weiter an diese Nacht, die ich nicht begreife. Glauben Sie weiter daran, daß ich nicht getötet habe, setzen Sie Ihre Energie dafür ein. Werden Sie Klotz, werden Sie Pfeiler, werden Sie Glaube. Dann werde ich auch Klotz, und ich werde glauben.«
    »Ihr eigenes Denken«, beharrte Retancourt. »Ich hab’s Ihnen gesagt. Ihre einsame Gewißheit – machen Sie dieses eine Mal Gebrauch davon.«
    »Ich habe verstanden,

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