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Der vierzehnte Stein

Der vierzehnte Stein

Titel: Der vierzehnte Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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frühen Morgen, würde das Fahrgestell den Boden in Roissy berühren. Er würde die Kontrollen passieren und sich für einen Augenblick lebendig und befreit fühlen. Aber das war ein Irrtum. Der Alptraum würde in einem anderen Land weitergehen. Trostlos und weiß wie eine Packeisscholle lag die Zukunft vor ihm. Zumindest würde Retancourt in die Brigade zurückkehren können, wenn sie vorgab, sie habe befürchtet, die Cops würden sie als Komplizin dabehalten. Für ihn aber begann das Nichts. Und sein Gefährte wäre von nun an der bohrende Zweifel an Taten, an die er sich nicht erinnern konnte. Fast wäre es ihm lieber gewesen, er hätte wirklich jemanden umgebracht, als das schreckliche Halbdunkel jener Nacht vom Sechsundzwanzisten mit sich herumtragen zu müssen.
     
    Jean-Pierre Emile Roger passierte die Sperren in Roissy reibungslos, doch Adamsberg konnte sich einfach nicht entschließen, den Flughafen zu verlassen ohne die Gewißheit, daß auch Retancourt ihr Ziel erreicht hatte. So zog er zweieinhalb Stunden von Halle zu Halle, versuchte sich unauffällig zu verhalten und sich in jener Unsichtbarkeit zu üben, die Retancourt in der GRC praktiziert hatte. Doch offenbar interessierte Jean-Pierre Emile hier niemanden, ebensowenig wie in Montreal. Immer wieder ging er an den Ankündigungstafeln vorbei und achtete auf eventuelle Verspätungen von Jumbojets. Jumbojets, wiederholte er für sich. Seine Jumbo-Retancourt. Ohne die er heute längst im kanadischen Knast säße, hinter Schloß und Riegel, ein für allemal erledigt. Retancourt, seine Jumbo-Lady und Befreierein.
    Der unbedeutende Jean-Pierre Emile stellte sich, nun schon beinahe sorglos, ungefähr zwanzig Meter neben die Ausgangstür. Retancourt mußte wohl ihre gesamte Energie in die Person von Henriette Emma Marie Parillon umgewandelt haben. Immer mehr Fluggäste strömten in die Halle, doch keine Spur von seinem Lieutenant; Adamsbergs Finger verkrampften sich. Hatte man sie in Montreal zurückgehalten? Hatten die Cochs sie in die GRC zurückgebracht? Und die ganze Nacht verhört? War sie schließlich zusammengebrochen? Hatte Raphaëls Namen genannt? Und den ihres eigenen Bruders? Am Ende war Adamsberg voller Groll gegen all diese vorbeieilenden Unbekannten, die glücklich waren, ihre Reise endlich hinter sich zu haben, und in ihren Taschen Ahornsirup und Plüschkaribus mitbrachten. Er warf ihnen vor, keine Retancourts zu sein. Da griff eine Hand nach seinem Arm und zog ihn in die Halle zurück. Die von Henriette Emma Marie Parillon.
    »Sie sind verrückt«, murmelte Retancourt, wobei sie Henriettes gelangweilten Gesichtsausdruck beibehielt.
     
    An der Station Châtelet stiegen sie aus, sie waren wieder in Paris, und Adamsberg schlug seinem Lieutenant vor, seine letzten Stunden in Freiheit mit Jean-Pierre Émiles bleichem Gesicht zu nutzen, um in einem Café wie ein ganz normaler braver Bürger zu Mittag zu essen. Retancourt zögerte, willigte dann aber ein, inzwischen auch etwas entspannter durch ihre so perfekt gelungene Ausreise und die Mengen von Passanten, die über den Platz strömten.
    »Wir werden so tun, als ob«, sagte Adamsberg, als er vor seinem Teller saß, sehr aufrecht, wie Jean-Pierre Emile es getan hätte. »Als ob ich es nicht wäre. Als ob ich es nicht getan hätte.«
    »Das Kapitel ist abgeschlossen, Kommissar«, erklärte Retancourt in vorwurfsvollem Ton, der dem Gesicht von Henriette Emma einen unvermuteten Ausdruck gab. »Es ist vorbei, und Sie haben es nicht getan. Wir sind in Paris, auf Ihrem eigenen Territorium, und Sie werden wieder zum Bullen. Ich kann nicht für zwei daran glauben. Wir können zwar unsere beiden Körper in eine Nahkampfstellung bringen, nicht aber unser beider Gedanken. Sie müssen jetzt wieder zu Ihren eigenen zurückfinden.«
    »Warum glauben Sie daran, Retancourt?«
    »Darüber haben wir schon gesprochen.«
    »Aber warum«, beharrte Adamsberg, »wo Sie mich doch gar nicht mögen?«
    Retancourt stieß einen etwas entnervten Seufzer aus.
    »Was hat das für eine Bedeutung?«
    »Es bedeutet mir schon etwas, das zu verstehen. Wirklich.«
    »Ich weiß nicht mehr, ob es für heute oder morgen noch zutrifft.«
    »Wegen meines Absturzes in Quebec?«
    »Unter anderem. Ich weiß nicht mehr.«
    »Trotzdem, Retancourt. Ich will’s wissen.«
    Retancourt dachte einen Moment nach, wobei sie ihre leere Kaffeetasse zwischen den Fingern drehte.
    »Wir werden uns vielleicht nie mehr wiedersehen, Lieutenant«, fuhr Adamsberg

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