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Der vierzehnte Stein

Der vierzehnte Stein

Titel: Der vierzehnte Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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im Flughafen von Montreal frei umherzuspazieren. Aber der Ort wimmelte von Cochs, so daß ihm jedes Verlangen nach Entspannung verging.
    In einer Glasscheibe betrachtete er sich von der Seite und überprüfte die Glaubwürdigkeit seines Spiegelbilds als Handelsvertreter um die Sechzig. Retancourt hatte ihn auf bewundernswerte Weise verändert, und er hatte wie eine Puppe alles über sich ergehen lassen. Seine Verwandlung hatte Basile sehr amüsiert. »Gib ihm was Trauriges«, riet er Violette, und das hatte sie erreicht. Sein Blick, versteckt unter gezupften, graugefärbten Augenbrauen, war sehr verändert. Retancourt hatte die Genauigkeit so weit getrieben, daß sie auch noch seine Wimpern gebleicht und ihm eine halbe Stunde vor Abfahrt Zitronensaft in die Augen geträufelt hatte. Die gerötete Hornhaut im blassen Gesicht verlieh ihm einen müden, kränklichen Ausdruck. Aber es blieben seine Lippen, seine Nase, seine Ohren, die, da unveränderlich, seine Identität geradezu herauszuschreien schienen.
    Er griff nach seinen neuen Papieren in der Jackentasche, kontrollierte unablässig, ob sie noch da waren. Jean-Pierre Emile Roger Feuillet, das war der Name, den Violettes Bruder für ihn bestimmt hatte, in einem hervorragend gefälschten Paß. Einschließlich der Stempel von den Flughäfen Roissy und Montreal, die bestätigten, daß er eingereist war. Verdammt gute Arbeit. Wenn der Bruder genauso begabt war wie seine Schwester, hatte man es hier mit einer Expertenfamilie zu tun.
    Seine richtigen Papiere waren bei Basile geblieben, für den Fall, daß sein Gepäck durchsucht würde. Ein großartiger Schumm, dieser Basile, der auch nicht versäumt hatte, ihnen jeden Tag zu berichten, was in der Presse stand. Die bissigen Artikel über den flüchtigen Mörder und seine Komplizin hatten ihn mit Genugtuung erfüllt. Und ein aufmerksamer Typ. Damit Adamsberg sich nicht so allein fühlte, hatte er ihn auf seinen Wanderungen durch den Flur oft begleitet. Als echter Wanderer verstand er, daß sein Gefangener ungeduldig war. Beim Aufundabgehen unterhielten sie sich, und nach einer Woche wußte Adamsberg beinahe alles über Basiles Frauengeschichten und Kanadas Geographie, von Vancouver bis zur Gaspé Halbinsel. Gleichwohl hatte Basile noch nie von dem stachelbärtigen Fisch im Pinksee gehört, und er schwor sich, das Tier nächstens zu besichtigen. Auch das Straßburger Münster, hatte Adamsberg hinzugefügt, falls du eines Tages mal durch das kleine Frankreich kommst.
     
    Er passierte die Kontrollen, bemüht, an nichts Bestimmtes zu denken, wie Jean-Pierre Emile Roger Feuillet es wohl getan hätte, wenn er sich nach Paris begab, um dort seinen Ahornsirup zu vertreiben. Doch merkwürdigerweise kam es ihm so vor, als sei die Fähigkeit, an nichts zu denken, über die er in normalen Zeiten so leicht und sogar allzu spontan verfügte, an diesem Tag besonders schwierig zu erlangen. Ihm, der sich für ein Ja, für ein Nein ausklinkte, der ganze Abschnitte eines Gesprächs versäumen konnte, der munter Wolken schaufelte, ohne etwas mit ihnen anfangen zu können, ihm stockte bei der Paßkontrolle auf dem Flughafen plötzlich der Atem, und die Gedanken überschlugen sich in seinem Kopf.
    Aber Jean-Pierre Emile Roger Feuillet interessierte das Flughafenpersonal nicht im mindesten, und als er endlich in der Abflughalle war, zwang Adamsberg sich soweit zur Ruhe, daß er ein Fläschchen Ahornsirup kaufen konnte. Für seine Mutter, das tat Jean-Pierre Emile Roger Feuillet jedesmal. Das Dröhnen der Triebwerke und der Start lösten eine Entspannung in ihm aus, die Danglard nie hätte begreifen können. Er schaute zu, wie der kanadische Boden sich unter ihm entfernte, und stellte sich die Hunderte ratloser Cochs vor, die dort unten hin und her liefen.
    Blieb noch die Hürde Roissy zu überwinden. Blieb außerdem noch Retancourt, die in zweieinhalb Stunden durch die Paßkontrolle gehen würde. Adamsberg machte sich Sorgen um sie. Ihr neues Erscheinungsbild als reiche, müßige Frau war in der Tat umwerfend – und es hatte Basile gleichfalls sehr erheitert –, doch Adamsberg befürchtete, daß man sie an ihrer Figur erkennen könnte. Er sah ihren nackten Körper wieder vor sich. Beeindruckend, gewiß, aber harmonisch. Raphaël hatte recht, Retancourt war eine schöne Frau, und er warf sich vor, wegen ihres Übergewichts und ihrer Kraft nie daran gedacht zu haben. Raphaël war schon immer feinfühliger gewesen als er.
    In sieben Stunden, am

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