Der vierzehnte Stein
normal.«
»Versuchen Sie es trotzdem. Seine Größe, sein Gewicht, seine Frisur?«
»Eine Sekunde, Kommissar.«
Denise Coutellier schuf Ordnung in dem Kinderhaufen und kam an den Apparat zurück.
»Sagen wir, er war ein nicht sehr großer Mann, eher rundlich, mit gerötetem Gesicht. Seine Haare, nun ja, sie waren grau, und obenrum war er schon kahl. Er trug einen braunen Samtanzug und eine Krawatte, an die Kleidung erinnere ich mich immer.«
»Warten Sie, ich will mir das aufschreiben.«
»Seien Sie aber trotzdem vorsichtig«, sagte die Frau, die erneut schrie. »Denn das Gedächtnis kann einem auch einen Streich spielen, nicht wahr? Ich sage ›klein‹ zu Ihnen, und nachher habe ich ihn vielleicht entstellt. Seine Anzüge waren größer, als ich seine Statur in Erinnerung hatte. Sagen wir, wie für einen einsachtzig großen Mann, während ich ihn mir als einen Meter siebzig groß vorgestellt habe. Korpulenz läßt einen Mann allerdings kleiner erscheinen. Bei den Haaren sage ich ›grau‹ zu Ihnen, aber im Badezimmer oder in der Wäsche habe ich immer nur weiße gefunden. Doch in vier Jahren kann er natürlich auch weiß geworden sein, in dem Alter geht das ja schnell. Deshalb meine ich, die Erinnerung und die Wahrheit, das sind zwei Paar Schuhe.«
»Madame Coutellier, gehören zu dem Haus noch Nebengelasse oder Anbauten?«
»Es gibt einen ehemaligen Pferdestall, eine Scheune und dann noch ein Gartenhäuschen. Aber das stand leer, darum mußte ich mich nicht kümmern. In dem Stall parkte er sein Auto. Und der Gärtner hatte Zugang zur Scheune, wegen der Gerätschaften.«
»Könnten sie mir den Wagentyp nennen und die Farbe?«
»Ich habe ihn nie gesehen, Kommissar, wo doch Monsieur immer schon weg war, wenn ich kam. Und ich hatte keine Schlüssel für die Nebengebäude, das sagte ich schon.«
»Und im Haus selbst«, fragte Adamsberg und dachte an den kostbaren Dreizack, »hatten Sie da Zugang zu allen Räumen?«
»Außer zum Dachboden, der immer verschlossen blieb. Monsieur Leclerc meinte, daß es sinnlos wäre, in dem Staub da oben seine Zeit zu verschwenden.«
Das Versteck von Blaubart, hätte Commandant Trabelmann gesagt. Das verbotene Zimmer, der Ort, wo sich das Grauen verbarg.
Adamsberg sah auf seine Uhr. Vielmehr seine Uhren. Auf die, die er vor zwei Jahren beschlossen hatte zu kaufen, und auf die, die Camille ihm in Lissabon geschenkt hatte, eine Herrenuhr, die sie gerade bei einem Straßenfest gewonnen hatte. Und die er als Zeichen ihres Wiedersehens hatte tragen wollen, und das war genau der Abend, bevor er sie verließ. Seitdem hatte er diese zweite, eine wasserdichte und sportliche Uhr, die verschiedenste Knöpfe, Chronometer und Minizifferblätter besaß, mit denen er nicht umgehen konnte, komischerweise nicht abgemacht. Eins von ihnen, so schien es, konnte anzeigen, in wieviel Sekunden der Blitz auf einen niederfuhr. Sehr praktisch, hatte Adamsberg gedacht. Darum hatte er aber seine eigene Uhr nicht abgelegt, die an einem alten, etwas ausgeleierten Lederarmband festgemacht war und öfter mit ihrer Nachbarin zusammenstieß. So daß er seit einem Jahr nun zwei Uhren am linken Handgelenk trug. Alle seine Mitarbeiter hatten ihn auf diese Tatsache aufmerksam gemacht, worauf er stets antwortete, er habe es selbst auch schon bemerkt. Schließlich hatte er es bei seinen beiden Uhren bewenden lassen, ohne zu wissen, warum, zumal es ihn beim Zubettgehen wie beim Aufstehen ja auch mehr Zeit kostete, sie abzumachen und wieder umzubinden.
Eine der Uhren zeigte eine Minute vor drei, die andere vier Minuten nach drei. Camilles war der anderen voraus, und Adamsberg versuchte nicht, herauszubekommen, welche nun recht hatte, und er stellte sie auch nicht. Die Abweichung gefiel ihm, er errechnete sich eine mittlere Zeit aus den beiden, die für ihn die wirkliche Zeit darstellte. Also war es jetzt anderthalb Minuten nach drei. Er hatte Zeit, noch einmal in einen Zug nach Straßburg zu springen.
Der junge Mann, den die Agentur delegiert hatte und dessen grüne, erstaunte Augen ihn an Brigadier Estalère erinnerten, holte ihn um 18 Uhr 47 von der Bahnstation in Hagenau ab und fuhr ihn zum Schloß von Maxime Leclerc, einem großen Anwesen, das von einem Kiefernwald umgeben war.
»Kein Nachbar weit und breit, was?« sagte Adamsberg, während er jedes einzelne Zimmer in dem verlassenen Haus besichtigte.
»Monsieur Leclerc hatte eigens angegeben, daß er vor allem seine Ruhe wünsche. Ein sehr
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