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Der vierzehnte Stein

Der vierzehnte Stein

Titel: Der vierzehnte Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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Furcht, andere zu verletzen oder einen Gedanken zu stören, wechselte zwischen harmlosen Scherzen und fieberhaftem Studium der Rangabzeichen von Quebec. Im Gegensatz zu dem agilen Noël, der bei allem und allzuschnell mitmachte. Jede Veränderung war gut für Noël, und diese Reise konnte ihm nur gefallen. Genau wie Voisenet. Der Ex-Chemiker und Naturwissenschaftler erhoffte sich von dem Aufenthalt wissenschaftliche Einsichten, aber auch geologische und faunamäßige Aufregungen aller Art. Für Retancourt gab’s natürlich kein Problem, sie war die personifizierte Anpassung, fügte sie sich doch hervorragend in jede gebotene Situation. Was den jungen, schüchternen Estalère betraf, so verlangten seine großen grünen und erstaunten Augen nur danach, Neues zu entdecken. Wodurch sein Erstaunen nur noch größer wurde. Kurzum, sagte sich Adamsberg, jeder profitierte bei dieser Reise oder gewann irgendeine Freiheit, was diese kollektive lärmende Aufregung auslöste.
    Außer Danglard. Seine fünf Kinder waren der großherzigen Nachbarin aus dem sechsten Stock anvertraut worden, mitsamt der Kugel, und alles lief gut in dieser Hinsicht, wenn nicht die Aussicht gewesen wäre, daß er sie als Waisen zurücklassen würde. Adamsberg suchte nach einer Möglichkeit, seinen Stellvertreter aus seiner wachsenden Panik zu erlösen, aber ihr gestörtes Verhältnis ließ ihm wenig Spielraum für einen tröstenden Zuspruch. Oder aber, sagte sich Adamsberg, man mußte das Gebäude von seiner anderen Seite her angreifen: ihn provozieren, ihn zwingen zu reagieren. Und was gab es da Besseres als den Bericht über seinen Besuch beim Phantom des Schlosses in Hagenau? Das würde Danglard ganz sicher wütend machen, und Wut ist bei weitem belebender und unterhaltsamer als Angst. Er sann eine Weile lächelnd darüber nach, als der Aufruf für die Passagiere zum Flug nach Montreal-Dorval sie aus ihren Sitzen riß.
    Ihre Plätze lagen alle zusammen in der Mitte der Boeing, und Adamsberg richtete es so ein, daß Danglard zu seiner Rechten Platz nahm, so weit wie möglich vom Bullauge entfernt. Die von einer strahlenden Stewardeß pantomimisch vorgetragenen Sicherheitsanweisungen für den Fall einer Explosion, eines Druckabfalls in der Kabine mit Sturz ins Meer und munterem Aussteigen über die Rutschen machten die Sache nicht leichter. Danglard suchte tastend nach seiner Schwimmweste.
    »Sinnlos«, sagte Adamsberg. »Wenn’s kracht, fliegt man durchs Bullauge, ohne es überhaupt zu merken, man schießt als Schwall davon wie die Kröte, paff, paff, paff, und Explosion.«
    Nichts, kein Schimmer auf dem leichenblassen Gesicht des Capitaine.
    Als die Maschine stehenblieb, um ihre Triebwerke mit voller Wucht dröhnen zu lassen, glaubte Adamsberg, daß er seinen Stellvertreter tatsächlich verlieren würde, genau wie diese verfluchte Kröte. Danglard überstand das Abheben mit in die Armlehnen verkrallten Fingern. Adamsberg wartete, bis das Flugzeug seine normale Flughöhe erreicht hatte, dann startete er einen Beschäftigungsversuch.
    »Hier«, erklärte er ihm, »haben Sie einen Bildschirm. Es laufen gute Filme. Es gibt auch einen Kulturkanal. Sehen Sie mal, hier«, fügte er hinzu, während er das Programm durchging, »eine Sendung über die Vorzeichen der italienischen Renaissance. Das ist doch nicht schlecht? Die italienische Renaissance?«
    »Kenne ich schon«, murmelte Danglard mit reglosem Gesicht, die Finger noch immer an die Armlehnen geschraubt.
    »Aber die Vorzeichen?«
    »Kenne ich auch.«
    »Wenn Sie Ihr Radio einschalten, können Sie sich eine Diskussion über Hegels Ästhetikkonzeption anhören. Das lohnt sich doch, oder?«
    »Kenne ich«, wiederholte Danglard düster.
    Na schön, wenn weder die Vorzeichen noch Hegel Danglard fesseln konnten, war die Lage so gut wie hoffnungslos, schätzte Adamsberg. Er warf einen Blick auf seine Nachbarin, Hélène Froissy, die, das Gesicht zum Bullauge gedreht, schon eingeschlafen war oder wieder ihren traurigen Gedanken nachhing.
    »Danglard, wissen Sie, was ich am Samstag gemacht habe?« fragte Adamsberg.
    »Mir egal.«
    »Ich habe den letzten Wohnsitz unseres verstorbenen Richters in der Nähe von Straßburg aufgesucht, einen Wohnsitz, den er wie ein Phantom sechs Tage nach dem Mord von Schiltigheim verlassen hat.«
    Auf den eingefallenen Zügen des Capitaine machte Adamsberg ein leichtes Beben aus, das er als Ermutigung auffaßte.
    »Ich erzähle es Ihnen.«
    Adamsberg zog seinen Bericht in die

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