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Der vierzehnte Stein

Der vierzehnte Stein

Titel: Der vierzehnte Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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einsamer Mensch. In dem Beruf gibt’s ja einige davon.«
    »Meinen Sie? So etwas wie ein Misanthrop?«
    »Vielleicht hatte ihn ja auch das Leben enttäuscht«, wagte sich der junge Mann vor, »und deshalb lebte er lieber weitab von der Welt. Madame Coutellier sagte, daß er viele Bücher hatte. Manchmal ist das der Beweis.«
    Wegen seines lädierten Arms von dem jungen Mann unterstützt, verbrachte Adamsberg eine Weile damit, Fingerabdrücke dort abzunehmen, wo er hoffte, daß Madame Coutelliers Putzlappen nicht hingekommen war, vor allem auf Türen, Griffen, Klinken und Lichtschaltern. Der Dachboden, so gut wie leer, war mit groben Dielen ausgelegt, die sich jeder Entschlüsselung widersetzten. Dennoch machten die ersten sechs Meter nicht den Eindruck einer Fläche, die seit vier Jahren unberührt geblieben war, unmerkliche Kontraste störten den einheitlichen Staubteppich. Unterhalb eines Balkens hob sich eine undeutliche Linie von dem dunkleren Boden ab, nur eine Spur heller. Es war heikel, das zu behaupten, aber wenn der Mann irgendwo einen Dreizack abgestellt hatte, konnte es hier gewesen sein, wo der Stiel eine flüchtige Erinnerung zurückgelassen hatte. Besondere Aufmerksamkeit widmete Adamsberg dem geräumigen Badezimmer. Madame Coutellier war an diesem Morgen eifrig zu Werke gegangen, aber die Größe des Raums ließ ihm noch eine Chance. In dem schmalen Spalt zwischen Waschbeckenfuß und Wand sammelte er einen kleinen verklebten Staubrückstand ein, in dem einige mattweiße Haare zutage traten.
    Der junge Mann öffnete geduldig und erstaunt die Scheune, dann den Stall für ihn. Der festgetretene Erdboden war gefegt worden, wodurch jegliche Reifenspur verschwunden war. Maxime Leclerc hatte sich mit der ätherischen Leichtigkeit eines Gespenstes ausgelöscht.
    Die Scheiben des Gartenhäuschens starrten vor Schmutz, aber es war nicht vollständig aufgegeben, wie Madame Coutellier geglaubt hatte. Adamsbergs Hoffnung erfüllte sich, einige Zeichen wiesen auf eine zeitweilige Anwesenheit hin: ungleichmäßiger Schmutz auf den Fliesen, ein sauberer Korbsessel und feine Spuren, womöglich von einigen Bücherstapeln, auf dem einzigen Regal. Dort also verkroch sich Maxime Leclerc während der drei Stunden montags und donnerstags, in denen er, geschützt vor den Blicken der Haushälterin und des Gärtners, in diesem Sessel las. Sessel und einsame Lektüre, beides erinnerte Adamsberg an seinen Vater, wie er, die Pfeife in der Hand, seine Zeitung aufschlug. Eine ganze Generation hatte Pfeife geraucht, und er erinnerte sich sehr genau daran, daß auch der Richter eine besaß, aus Meerschaum, wie seine Mutter stets mit Bewunderung gesagt hatte.
    »Riechen Sie das?« sagte er zu dem jungen Mann. »Den Geruch? Den Honiggeruch des Pfeifentabaks?«
    Hier waren Stuhl, Tisch und die Türknäufe mit größter Sorgfalt abgewischt worden. Es sei denn, hätte Danglard gesagt, gar nichts war abgewischt worden, denn Tote hinterlassen keine Fingerabdrücke, Punkt. Aber ganz offensichtlich lesen sie wie alle anderen Leute auch.
     
    Adamsberg entließ den Angestellten erst nach einundzwanzig Uhr am Bahnhof in Straßburg, der junge Mann hatte es als seine Pflicht betrachtet, ihn dorthin zu fahren, da um diese Zeit kein Zug mehr von Hagenau ging. Diesmal fuhr der Zug in sechs Minuten ab, und es ließ sich nicht überprüfen, ob irgendein verirrter Drachen sich in das Portal des Münsters gezwängt hatte. Aber man hätte sicher davon erfahren, meinte Adamsberg.
    Während der ganzen Rückfahrt machte er sich Notizen, indem er wahllos alle Einzelheiten aufschrieb, die er im Schloß herausgefunden hatte. Die vier Jahre, die Maxime Leclerc dort verbracht hatte, trugen alle Anzeichen größter Diskretion. Einer Diskretion, die an Verdunstung grenzte, an ein sehr bezeichnendes Sich-Auslöschen.
    Der rundliche Mann, den Madame Coutellier getroffen hatte, war nicht Maxime Leclerc, sondern einer seiner Helfershelfer, den er für diesen kurzen Auftrag abkommandiert hatte. Der Richter hatte einen großen Trupp von Handlangern in seiner Gewalt, ein hervorragend organisiertes Netz, das er sich im Laufe der vielen Jahre seiner Amtszeit aufgebaut hatte. Ein Straferlaß hier, eine gewährte Milde da, eine geschickt aus der Welt geschaffte Tat, und der Beschuldigte fand sich reingewaschen oder zu einer nur kurzen Strafe verurteilt. Aber er fiel damit in den Korb all jener Wesen, die Fulgence verpflichtet waren und die er nach seinem Gutdünken benutzte.

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