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Der vierzehnte Stein

Der vierzehnte Stein

Titel: Der vierzehnte Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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angelaufene Beule einmal ausgenommen, so halbwegs sehen lassen. Ginette verabreichte ihm diverse Mittel, für den Kopf, den Bauch und die Beine. Sie desinfizierte die Wunde an der Stirn und schmierte eine klebrige Salbe darauf. Dann untersuchte sie mit professioneller Geste seine Pupillen und kontrollierte seine Reflexe; willenlos ließ Adamsberg alles über sich ergehen. Beruhigt durch ihre Untersuchung, gab sie ihm ihre Empfehlungen für den Tag. Alle vier Stunden Medikamenteneinnahme. Viel trinken, Selters natürlich. Den Körper reinigen und zum Wasser gehen.
    »Zum Wasser gehen?«
    »Urinieren«, erklärte Ginette.
    Adamsberg stimmte teilnahmslos zu.
    Sehr diskret diesmal, ließ sie ihn mit einigen Zeitschriften zurück, die sie zu seiner Unterhaltung mitgebracht hatte, falls er sich irgendwann wieder in der Lage fühlen sollte zu lesen, und versorgte ihn auch mit Vorräten für den Abend. Absolut zuvorkommend, die Kollegen, wirklich, das mußte er in dem Bericht unbedingt erwähnen.
    Er ließ die Zeitschriften auf dem Tisch und legte sich in voller Montur wieder hin. Er schlief, träumte, blickte den Deckenventilator an und stand alle vier Stunden auf, um Ginettes Medikamente zu schlucken, zu trinken, zum Wasser zu gehen und sich sogleich wieder hinzulegen. Gegen acht Uhr abends fühlte er sich besser. Die Schmerzen im Schädel hatte sein Kopfkissen aufgesogen, und seine Beine bekamen langsam wieder Halt.
    In diesem Augenblick rief Laliberté an, um sich nach ihm zu erkundigen, da konnte er schon beinah normal aufstehen.
    »Nicht schlimmer geworden?« fragte der Surintendant.
    »Viel besser, Aurèle.«
    »Hast du keine Bossel mehr? Keine Aussetzer?«
    »Gar nicht mehr.«
    »Dann bin ich zufrieden. Beeil dich morgen nicht zu sehr, wir bringen euch zum Flughafen. Soll dir jemand mit dem Gepäck helfen?«
    »Wird schon gehen. Ich bin fast wieder hergestellt.«
    »Mach dir ’n gutes Nächte. Und komm uns bloß wieder ins Lot.«
    Adamsberg zwang sich, einen Teil des Abendbrots, das ihm Ginette dagelassen hatte, zu essen, und entschied sich dann, zu seinem Fluß zu gehen, um ihn zum letztenmal im Abendlicht zu sehen. Das Thermometer zeigte minus zehn Grad.
    Der Nachtwächter stoppte ihn an der Tür.
    »Geht’s wieder besser?« fragte er. »Sie waren gestern abend persönlich in einem schlimmen Zustand. Dieses Pack. Habense die wenigstens erwischt?«
    »Ja, die ganze Bande. Tut mir leid, daß ich Sie aufgeweckt habe.«
    »Macht nichts, ich hab nicht geschlafen. Und das um fast zwei Uhr früh. Ich leide an Schlafstörungen zur Zeit.«
    »Fast zwei Uhr früh?« Adamsberg kehrte noch einmal zurück. »So spät war’s?«
    »Zehn Minuten vor zwei, um genau zu sein. Und ich hab nicht geschlafen, wirklich zum Kotzen.«
     
    Nachdenklich schob Adamsberg seine Fäuste tief in die Taschen, stieg zum Ottawa River hinunter und ging gleich rechter Hand weiter. Es kam nicht in Frage, sich bei dieser Kälte hinzusetzen, und auch nicht, dieser Furie von Noëlla zu begegnen.
    Zehn vor zwei in der Früh. Der Kommissar lief hin und her auf dem kurzen Strandstück, das am Ufer entlangführte. Der Boß der Ringelgänse war noch immer am Werk, er holte seine Truppen für die Nacht ein und rief der Reihe nach die Ausreißer und Verirrten zusammen. Er hörte ihn in seinem Rücken gebieterisch schnattern. Das war ein Kerl ohne Stimmungsschwankungen, der sich ganz bestimmt nicht am Sonntagabend in einem Café in der Rue Laval zusoff. Da konnte er sicher sein. Dafür haßte Adamsberg diesen unfehlbaren Boß nur noch mehr. Ein Ringelganter, der wahrscheinlich jeden Morgen den Sitz seiner Federn überprüfte und sich die Schnürsenkel zuband. Er schlug den Kragen seiner Jacke hoch. Vergiß den Kerl und denk nach, zerbrich dir mal den Kopf, wie Clémentine gesagt hatte, das ist doch nicht schwer zu verstehn. Clémentines und Sanscartiers Ratschläge befolgen. Im Moment waren dies seine einzigen Schutzengel: eine ungewöhnliche alte Frau und ein unschuldiger Sergent. Jedem seine Engel. Denk nach.
    Zehn vor zwei in der Früh. Vor dem Ast erinnerte er sich an alles. Er hatte den Barkeeper nach der Uhrzeit gefragt. Viertel nach zehn, Zeit für dich, schlafen zu gehen, Mensch. Und so sehr er auch schwankte, hatte er bestimmt nicht mehr als vierzig Minuten bis zu dem Ast gebraucht. Sagen wir, eine Dreiviertelstunde, mit den Abweichungen. Mehr nicht, denn seine Beine trugen ihn zu der Zeit noch mühelos. Er war also ungefähr um elf Uhr gegen den Baum

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