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Der vierzehnte Stein

Der vierzehnte Stein

Titel: Der vierzehnte Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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Männer reihenweise verlieren. Versuch nicht, ihnen was weiszumachen, hatte Sanscartier gesagt.
    »Wie gedenken Sie denn vorzugehen?« fragte Mordent interessiert.
    »Einen nächsten Mord abwarten und versuchen, ihn dabei zu erwischen, bevor er wieder untertaucht.«
    »Nicht gerade gewaltig«, kommentierte Mordent.
    »Natürlich nicht. Aber wie soll man vorgehen, wenn man ein Gespenst fassen will?«
    Merkwürdigerweise dachte Mordent über die Frage nach. Adamsberg nahm auf einem nebenstehenden Hocker Platz und ließ die Beine baumeln. An der Wand des Gerüchtezimmers standen acht solcher festgeschraubten Hocker, und Adamsberg dachte oft, wenn sich einmal acht von ihnen gleichzeitig darauf niederlassen würden, ergäbe das einen hübschen Vogelschwarm auf einer Stromleitung, bereit zum Abflug. Eine Situation, die sich aber noch nie ergeben hatte.
    »Wie?« beharrte Adamsberg.
    »Indem man es ir-ri-tiert«, erklärte Mordent.
    Der Commandant sprach stets sehr bedächtig, zog die Silben übertrieben weit auseinander und betonte manchmal sogar eine von ihnen noch besonders, wie ein Finger auf einer Klaviertaste verweilt. Ein abgehackter, langsamer Sprachrhythmus, der die Eile vieler störte, aber dem Kommissar zusagte.
    »Genauer gesagt?«
    »In Schauergeschichten zieht eine Familie in ein Haus, in dem es spukt. Bis zu diesem Punkt verhielt sich das Hausgespenst ganz gemütlich, es fiel nie-mandem auf die Nerven.«
    Ganz offensichtlich mochte nicht nur Trabelmann Märchen. Mordent auch. Vielleicht alle, und sogar Brézillon.
    »Und dann?« fragte Adamsberg, der sich, aus Zeitverschiebungsgründen, einen zweiten Normalen holte und sich wieder auf seine Hühnerstange setzte.
    »Dann ir-ri-tieren die Neuankömmlinge das Gespenst. Und warum? Weil sie um-räumen, die Schränke säubern, die alten Koffer wegschaffen, den Dachboden leer räumen, es aus seinen Schlupfwinkeln vertreiben. Kurzum, sie versperren ihm seine Verstecke. Oder stehlen ihm sein inn-igstes Geheimnis.«
    »Welches Geheimnis?«
    »Nun, immer dasselbe: seine Ur-schuld, sein erster Mord. Denn wenn es keine furchtbare Schuld gäbe, wäre der Kerl ja nicht dazu verdammt, seit drei Jahrhunderten in dem Kasten herumzuspu-ken. Eine eingemauerte Gattin, ein Brudermord, was weiß ich? Eben solche Sachen, durch die Gespenster entstehen.«
    »Das ist wahr, Mordent.«
    »Woraufhin das Gespenst, in die Enge getrieben und um seine Zufluchtsorte gebracht, nervös wird. Genau an diesem Punkt beginnt das Ganze. Es kommt hervor, es rächt sich und wird schließlich zu jemandem. Von da ab kann der Kampf sich entspinnen.«
    »So wie Sie darüber reden, glauben Sie daran? Kennen Sie solche Fälle?«
    Mordent lächelte und strich sich über seinen kahlen Schädel.
    »Sie waren es doch, der von Gespenstern gesprochen hat. Ich erzähle Ihnen bloß die Geschichte. Das ist amüsant. Und natürlich auch interessant. Ganz am Grunde der Märchen liegt im-mer ein schweres Gewicht. Schlamm, ewiger Schlamm.«
    Der Pinksee zog durch Adamsbergs Gedanken.
    »Was für ein Schlamm?« fragte er.
    »Eine Wahrheit, die so schockierend ist, daß man sie nur im Gewand des Märchens auszusprechen wagt. Und inszeniert in Schlössern, mit Kleidern aus alten Zeiten, mit Geistern und Eseln, die Gold scheißen.«
    Mordent amüsierte sich und schmiß seinen Becher in den Mülleimer.
    »Das wichtigste ist, sich bei der Decodierung nicht zu irren und genau zu zielen.«
    »Irritieren, Zuflucht versperren, die Ursünde heraustreiben.«
    »Leichter gesagt als getan. Haben Sie meinen Bericht über den Lehrgang in Quebec gelesen?«
    »Gelesen und abgezeichnet. Man könnte meinen, Sie seien dort gewesen. Wissen Sie, wer bei den Cops in Quebec die Tür bewacht?«
    »Ja. Ein Eichhörnchen.«
    »Wer hat Ihnen das erzählt?«
    »Estalère. Das hat ihn am meisten erstaunt. Freiwillig oder dienstverpflichtet?«
    »Estalère?«
    »Nein, das Eichhörnchen.«
    »Freiwillig aus Berufung. Hat sich auch in eine Puppe verknallt, was sich nachteilig auf die Arbeit ausgewirkt hat.«
    »Estalère?«
    »Nein, das Eichhörnchen.«
     
    Adamsberg setzte sich wieder an seinen Tisch und dachte über Mordents Erklärungen nach. Die Schränke ausräumen, austreiben, Zuflucht versperren, provozieren. Den Toten irritieren. Mit Laser die Urschuld aufdecken. Alles ausräumen, alles hinauswerfen. Eine große Unternehmung, die zu einem Sagenhelden paßte und mit der er vierzehn Jahre lang gescheitert war. Kein Pferd, kein Schwert, keine

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