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Der vierzehnte Stein

Der vierzehnte Stein

Titel: Der vierzehnte Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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Rüstung.
    Und keine Zeit. Er nahm den zweiten Aktenstapel in Angriff. Wenigstens rechtfertigte diese Notwendigkeit die Tatsache, daß er noch kein Wort mit Danglard gewechselt hatte. Er fragte sich, wie er mit diesem neuerlichen Schweigen umgehen sollte. Der Capitaine hatte sich bei ihm entschuldigt, doch das Eis blieb fest. Von Wehmut getrieben, hatte Adamsberg am Morgen den internationalen Wetterbericht gehört. Die Temperaturen in Ottawa schwankten noch immer zwischen minus acht Grad am Tage und minus zwölf in der Nacht. Kein Tauwetter in Sicht.
    Am nächsten Tag verspürte der Kommissar, der noch immer an seinem zweiten Stapel saß, eine leichte Unruhe in sich summen, wie ein Insekt, das sich in seinem Körper eingenistet hatte und zwischen seinen Schultern und dem Bauch dröhnte. Eine ihm ziemlich vertraute Empfindung. Kein Vergleich zu den furchtbaren, ihn so erschöpfenden Anfällen, wenn der Richter wie ein Torpedo plötzlich aufgetaucht war. Nein, nur dieses bescheiden summende Insekt, ein kleines Nichts, das hier und da anstieß, wie ein schmollendes Unbehagen, das nach Aufmerksamkeit verlangte. Von Zeit zu Zeit holte er seine Karteikarte heraus, auf die er nun auch Mordents Kniffe hinsichtlich der besten Methode, Gespenster zu irritieren, notiert hatte. Und überflog sie, die Augen in der Butter, wie der Barkeeper von der Schleuse gesagt hatte.
    Gegen fünf Uhr trieb ihn ein leichter Kopfschmerz zum Kaffeeautomaten. Na schön, sagte sich Adamsberg und rieb seine Stirn, ich halte das Insekt jetzt an beiden Flügeln. Sein Besäufnis in der Nacht des 26. Oktober. Es war doch nicht dieses Besäufnis, das in ihm summte, sondern die verdammten zweieinhalb Stunden des Vergessens. Mit Wucht kam die Frage wieder in ihm hoch. Was konnte er nur während dieser ganzen Zeit auf dem Tragestellen-Pfad angestellt haben? Und was konnte dieses winzige Bruchstück entgangenen Lebens ihm schon bedeuten? Er hatte den fehlenden Strang im Fach Poröse Erinnerung infolge alkoholischer Durchtränkung abgelegt. Aber diese Einordnung befriedigte seinen Geist offenbar nicht, der fehlende Strang sprang wieder und wieder aus seinem Fach heraus, um ihn leise zu piesacken.
    Warum? fragte sich Adamsberg und rührte in seinem Kaffee. War es die Vorstellung, ein Stückchen seines Lebens verloren zu haben, die ihn störte, so als hätte man ihn verstümmelt, ohne ihn um Erlaubnis zu fragen? Oder sagte ihm die simple Erklärung mit dem Alkohol nicht zu? Oder machte er sich, schlimmer noch, Gedanken über das, was er in diesen zwei ausgelöschten Stunden gesagt oder getan haben könnte? Warum? Diese Sorge erschien ihm so abwegig, wie sich über Worte zu beunruhigen, die man im Schlaf gesprochen hat. Denn was konnte er anderes getan haben, als mit blutverschmiertem Gesicht umherzuwanken, hinzustürzen, zu schlafen und, warum nicht, auf allen vieren weiterzukriechen? Nichts anderes. Doch das Insekt vibrierte. Um ihn lediglich nur zu nerven oder aus einem bestimmten Grund?
    Von diesen vergessenen Stunden war ihm kein Bild, nur ein Gefühl geblieben. Und zwar, so wagte er zu formulieren, ein Gefühl von Gewalt. Das mußte an diesem Ast liegen, der ihn umgehauen hatte. Aber konnte er einem Ast böse sein, der selbst keinen einzigen Tropfen getrunken hatte? Einem passiven und nüchternen Feind? Konnte man sagen, daß der Ast ihm Gewalt angetan hatte? Oder war’s umgekehrt?
     
    Anstatt in sein Büro zurückzugehen, setzte er sich auf die Ecke von Danglards Tisch und warf seinen leeren Becher genau in den Papierkorb.
    »Danglard, mir sitzt ein Insekt im Körper.«
    »Ach ja?« fragte Danglard vorsichtig.
    »Dieser Sonntag, der 26. Oktober«, fuhr Adamsberg langsam fort, »der Abend, an dem Sie zu mir sagten, ich sei ein richtiger Idiot, Kommissar, erinnern Sie sich?«
    Der Capitaine bestätigte mit einer Geste und machte sich auf eine Auseinandersetzung gefaßt. Nun würde Adamsberg wohl den ganzen Streitsack ausschütten, wie sie in der GRC sagten, und der Sack war schwer. Doch was dann folgte, verlief nicht wie angenommen. Wie stets überraschte ihn der Kommissar da, wo er es nicht erwartete.
    »An demselben Abend bin ich auf dem Pfad gegen diesen Ast geprallt. Ein heftiger Schlag, ein wuchtiger Schlag. Sie wissen das.«
    Danglard nickte. Der Bluterguß auf der Stirn, bestrichen mit Ginettes gelber Salbe, war noch immer deutlich zu erkennen.
    »Was Sie allerdings nicht wissen, ist, daß ich nach unserem Gespräch direkt in die Schleuse gerannt

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