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Der vierzehnte Stein

Der vierzehnte Stein

Titel: Der vierzehnte Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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Adamsberg leise. »Und wozu überhaupt? Ich bin ja genauso auf der Flucht.«
    »Eben. Er wird endlich nicht mehr allein sein, und Sie auch nicht. Gehen Sie schon, Kommissar.«
    »Sie verstehen nicht, Retancourt. Ich schaff es nicht. Meine Beine sind kalt und steif, ich bin durch zwei gußeiserne Schraubwinden am Boden festgemacht.«
    »Erlauben Sie?« fragte der Lieutenant und legte vier Finger zwischen seine Schulterblätter.
    Mit einer Geste willigte Adamsberg ein. Nach zehn Minuten spürte er, wie an seinen Schenkeln eine Art Schmieröl entlanglief und ihnen die Beweglichkeit wiedergab.
    »War es das, was Sie im Flugzeug mit Danglard gemacht haben?«
    »Nein. Danglard hatte nur Angst zu sterben.«
    »Und ich, Retancourt?«
    »Angst vor genau dem Gegenteil.«
    Adamsberg nickte und stieg aus dem Wagen. Retancourt wollte eben in die Cafeteria hineingehen, als er sie am Arm zurückhielt.
    »Da ist er«, sagte er. »An dem Tisch dort, mit dem Rücken zu uns. Ich bin sicher.«
    Der Lieutenant betrachtete die Gestalt, auf die Adamsberg zeigte. Dieser Rücken, kein Zweifel, war wirklich der eines Bruders. Adamsbergs Hand schloß sich um ihren Arm.
    »Gehen Sie allein hinein«, sagte sie. »Ich kehre zum Wagen zurück. Geben Sie mir einen Wink, wenn ich zu Ihnen kommen kann. Ich möchte ihn sehen.«
    »Raphaël?«
    »Ja, Raphaël.«
    Adamsberg, mit noch immer schweren Beinen, drückte die Glastür auf. Er ging auf Raphaël zu und legte ihm die Hände auf die Schultern. Der Mann fuhr nicht hoch. Er betrachtete diese braunen Hände, die sich auf ihn gelegt hatten, erst die eine, dann die andere.
    »Hast du mich also gefunden?« fragte er regungslos.
    »Ja.«
    »Das war gut so.«
     
    Von der anderen Seite der schmalen Straße aus sah Retancourt, wie Raphaël aufstand, wie sich die beiden Brüder umarmten, sich mit verschlungenen Armen anschauten, jeder festgeklammert am Körper des anderen. Sie nahm ein kleines Fernglas aus ihrer Tasche und stellte auf Raphaël Adamsberg scharf, dessen Stirn die seines Bruders berührte. Der gleiche Körper, der gleiche Kopf. Doch so, wie die unbeständige Schönheit Adamsbergs wie ein Wunder aus seinen chaotischen Zügen hervortrat, lag die seines Bruders ganz offen da, in einem ebenmäßig gezeichneten Gesicht. Wie Zwillinge, die aus derselben Wurzel gesprossen waren, der eine in Unordnung, der andere in Harmonie. Retancourt wechselte die Position, um Adamsberg ins Dreiviertelprofil zu bekommen. Doch plötzlich nahm sie das Fernglas herunter, beschämt von ihrer Vermessenheit, mit der sie sich so weit in fremde Gefühle vorgewagt hatte.
    Nun, da sie sich gesetzt hatten, konnten die beiden Adamsbergs ihre Arme, die einen geschlossenen Kreis bildeten, nicht mehr loslassen. Retancourt setzte sich mit leisem Erschauern wieder in den Wagen. Sie räumte das Fernglas weg und schloß die Augen.
     
    Drei Stunden später hatte Adamsberg an das Wagenfenster geklopft und seinen Lieutenant abgeholt. Raphaël hatte sie beköstigt und mit einer Tasse Kaffee auf einem Sofa Platz nehmen lassen. Beide Brüder, hatte Retancourt bemerkt, entfernten sich nicht mehr als fünfzig Zentimeter voneinander.
    »Wird Jean-Baptiste verurteilt werden? Ist das sicher?« fragte Raphaël den Lieutenant.
    »Sicher«, bestätigte Retancourt. »Bleibt nur die Flucht.«
    »Unter den Augen von einem Dutzend Bullen, die das Hotel überwachen«, erklärte Adamsberg.
    »Es ist möglich«, sagte Retancourt.
    »Ihre Idee, Violette?« fragte Raphaël.
    Raphaël, der meinte, daß er weder Bulle noch Soldat wäre, hatte sich geweigert, den Lieutenant mit ihrem Nachnamen anzureden.
    »Wir fahren heute abend nach Gatineau zurück«, erklärte Retancourt. »Morgen früh, gegen sieben Uhr, kehren wir arglos und vor aller Augen ins Hotel Brébeuf zurück. Sie, Raphaël, machen sich dreieinhalb Stunden nach uns auf den Weg. Ist das möglich?«
    Raphaël nickte.
    »Sie kommen gegen zehn Uhr dreißig im Hotel an. Was werden die Cops sehen? Einen neuen Gast, der ihnen schnuppe ist, denn ihn suchen sie ja nicht. Zumal es um diese Uhrzeit ohnehin ein ständiges Kommen und Gehen ist. Die beiden Cochs, die uns beschatten, haben morgen keinen Dienst. Keiner der Überwachungsbullen wird Sie erkennen. Sie tragen sich unter Ihrem Namen ein und nehmen einfach nur Ihr Zimmer in Besitz.«
    »Verstanden.«
    »Haben Sie Anzüge? Geschäftsanzüge, mit Hemd und Krawatte?«
    »Ich habe drei. Zwei graue und einen blauen.«
    »Hervorragend. Kommen Sie im

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