Der Visionist
aufgegeben, diese Abgründe zu erforschen, zu tief, zu unergründlich waren sie ihm erschienen. Das Zeichnen zwang ihn, sich ihnen immer wieder zu stellen.
Er zeichnete Porträts von vielleicht einem Dutzend von Menschen, doch zwei Frauen tauchten öfter auf als die anderen. Er wusste, wie sich ihre Haare anfühlten, er konnte genau sagen, in welchem Winkel sich ihre Augenbrauen bogen. Er wusste, wie ihnen die Schatten ins Gesicht fielen, und kannte die Struktur ihrer Wangenknochen. Und er wusste, dass sie ihn alle anklagten. Aber weswegen?
Draußen dämmerte das erste Tageslicht am dunklen Himmel. Lucian legte den Zeichenstift weg. Der Haufen weggeworfener Zeichnungen lag auf dem Boden. Er warf einen Blick auf sie, dann kickte er sie in die Ecke.
6. KAPITEL
Ein starker Beweis ist auch, dass die Menschen viele Dinge schon wissen, bevor sie geboren werden. Schon als Kinder begreifen sie, wenn sie schwierige Künste erlernen, so schnell unzählige Sachen, dass es so scheint, als lernten sie diese nicht zum ersten Mal, sondern als würden sie sich daran erinnern und sich zurückbesinnen.
– Marcus Tullius Cicero,
„Cato der Ältere über das Alter“ –
Die Dämmerung legte sich über die Stadt und tauchte sie in einen gräulichen Dunst. Dr. Malachai Samuels liebte diese Tageszeit, diese eine Stunde zwischen Dunkelheit und Licht, in der alles vage und undeutlich wurde. Unbeholfen quälte er sich aus dem Mercedes und blieb einen Moment stehen, bis er wieder zu Atem kam. Er hatte immer noch Schmerzen. Vor dreieinhalb Wochen war er in Wien – aus Versehen – angeschossen worden. Die Kugel hatte keine lebenswichtigen Organe getroffen, aber er hatte viel Blut verloren. Der Schütze war festgenommen worden und würde etliche Jahre hinter Gitter sitzen, doch das war kaum Genugtuung für Malachai. Er hatte etwas verloren, von dem er geglaubt hatte, dass er es endlich in seinen Besitz gebracht hätte – ein intaktes Erinnerungswerkzeug. Dieser Verlust hatte eine Wunde geschlagen, die nicht heilen wollte.
Die wehmütigen Klänge von Beethovens Mondscheinsonate folgten ihm aus dem Wagen, eine passende Begleitmusik zur hereinbrechenden Abenddämmerung. Er stellte sich in den Schatten der Linden unter die frischen hellgrünen Blätter und inspizierte die Villa im Queen-Anne-Stil. Das letzte Mal war er hier am 27. April gewesen, als er zu einer, wie er gehofft hatte, kurzen und Erfolg versprechenden Geschäftsreise aufgebrochen war. Warmes Licht schien durch das Rundfensterüber der Tür, aber die unteren Fenster, wo sich die Büros befanden, und oben, wo seine Tante wohnte, waren alle dunkel. Wenigstens war niemand da, der seine schmachvolle Rückkehr mitbekam.
Es nagte an seinem Selbstbewusstsein, dass er ohne Erinnerungswerkzeug zurückkehrte. Doch solche Gefühle musste man überwinden, nicht sich ihnen hingeben. Er knöpfte sein Jackett zu, drückte die Schultern durch und ging auf die Eingangstür zu. Er war ein durchschnittlich aussehender Mann, mittelgroß, mit unauffälligen Gesichtszügen und Geheimratsecken, doch er trat ausgesprochen gepflegt auf, trug teure Kleidung und gab sich wie ein britischer Aristokrat. Sein Vater – sein ihm verhasster, distanzierter Vater, der ihn hatte deutlich spüren lassen, dass er den erstgeborenen, inzwischen verschiedenen Sohn mehr liebte – hatte sich immer darüber mokiert, dass Malachai sich als Engländer gab, wo er doch gar keiner war. Dabei stammte Malachais Mutter aus Großbritannien, und nach der Scheidung war er dort aufgewachsen. Als verunsicherter kleiner Junge hatte er dort entdeckt, dass er Magie lernen konnte. Es brauchte viel Geduld, die Zaubertricks zu perfektionieren, und seine Geduld kam ihm auch heute noch in seiner Arbeit mit Kindern zugute. Doch jetzt konnte er es nicht mehr ruhig und gelassen angehen. Sein Vater war ein alter Mann. Malachai musste den Beweis für die Vermutungen über sein früheres Leben bald erbringen. Denn wenigstens in seinen letzten Tagen sollte es sein Vater noch bitter bereuen, dass er gegenüber seinem zweitgeborenen Sohn nichts als Gleichgültigkeit gezeigt hatte.
Bevor er die Treppenstufen hoch zur Tür erklomm, legte Malachai noch einmal eine Pause ein, um zu Atem zu kommen. Selbst im Zwielicht bot das verwinkelte Gebäude mit seinen Gauben, den verschnörkelten, schmiedeeisernen Brüstungen und den Dutzenden von Wasserspeiern einen beeindruckenden Anblick. Seit 1847 stand es hier und war schonimmer ein Symbol von Macht
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