Der Visionist
alleine seine Frage hätte zu viel Aufmerksamkeit auf das Päckchen gezogen.
Es war angekommen. Er wollte es gerade öffnen, da klopfte es an der Tür.
„Herein!“, rief Malachai und schob die beiden Lederschachteln zur Seite.
Frances stellte ihm Robert Keyes und seine Tochter Veronica vor. Das Kind hatte tief dunkelblaue Augen, die Malachai besorgt musterten.
Die Kinder lagen ihm am Herzen. Ihre Probleme kamen zuerst, und als er auf die beiden zuging, dachte er nicht mehr an das Päckchen, sondern überlegte schon, was dieses kleine Mädchen wohl so beunruhigen könnte. Die Reaktionen waren ganz unterschiedlich, wenn sich akut Erinnerungen an frühere Leben bei Kindern manifestierten. Manche freuten sich auf jede neue Erinnerung, andere fürchteten sich vor dem, wassie sahen. Wie seine Tante hielt es Malachai für seine Pflicht, diesen Kindern bedingungsloses Vertrauen entgegenzubringen. Er glaubte ihnen, selbst wenn die Geschichten der Kinder aberwitzig klangen, und er versuchte, ihnen zu helfen, wenn sie keinen Sinn in den diffusen Erinnerungen finden konnten und mit ihnen nicht mehr zurechtkamen.
„Hallo, ich heiße Malachai.“ Er reichte Veronica die Hand.
Sie legte den Kopf ein wenig schief und runzelte dann die Stirn, als störe sie etwas. „Können Sie nicht eine Tablette nehmen?“
„Was meinst du?“, fragte Malachai.
„Sie machen ein Tut-weh-Gesicht. Ich kenne das von meinem Sohn. Dem hat es auch immer wehgetan.“
Malachai schaute zum Vater des Mädchens, der die Stirn in Falten legte.
„In einer der anderen Zeiten. In einer vor dieser jetzt“, sagte Veronica in einem Ton, als erwarte sie, dass ihn ihre Erklärung nur noch mehr verwirren würde. Aber Malachai verstand sie.
Er nickte. „Setzen Sie sich doch, dann reden wir darüber.“ Er deutete auf die Couch.
Robert nahm neben seiner Tochter Platz und legte ihr den Arm um die schmalen Schultern.
Malachai zog einen Stuhl heran. Schmerz durchzuckte ihn, aber er riss sich zusammen und ließ es sich nicht anmerken. „Ich weiß schon, was du meinst.“ Er zwinkerte Veronica verschwörerisch zu. „Du erinnerst dich an eine andere Zeit, früher, als du einen Sohn hattest. Und der hatte immer schlimme Schmerzen.“
„Es ist mehr wie träumen. Aber keine guten Träume. Bei den meisten habe ich Angst. Grandma Nina meint, dass es Erinnerungen aus meinen früheren Leben sind.“
Nina Keyes? War dieses Mädchen etwa ihre Enkelin? Malachai war der bekannten Philanthropin schon einige Maleüber den Weg gelaufen. Sie war eine Bekannte seiner Tante, außerdem spendete sie jedes Jahr für die Stiftung. Er wünschte, Frances hätte ihm vorher gesagt, wer die neue Patientin war.
„Erinnerungen aus deinen früheren Leben?“
Sie nickte.
„Viele Leute haben solche Erinnerungen“, sagte Malachai.
„Meine Grandma sagt, wenn ich mit Ihnen darüber spreche, dann krieg ich die Erinnerungen vielleicht aus dem Kopf. Ich weiß aber nicht, wie sie überhaupt da hineingekommen sind.“
„Grandma meint, dann musst du nicht mehr daran denken.“ Robert beugte sich vor und küsste seine Tochter auf die Stirn.
„Stören dich die Erinnerungen, Veronica?“, fragte Malachai sanft.
Wieder nickte das Mädchen.
„Erzählst du mir etwas darüber?“
Sie rutschte vor, näher zu ihm heran. „Sie machen mir Angst“, flüsterte sie.
Am besorgten Blick ihres Vaters konnte Malachai den Rest der Geschichte ablesen. „In den letzten Monaten hatte Veronica sehr schlimme Albträume, und sie will nicht mehr alleine sein. Jemand – ihre Mutter oder ich oder ihre Großmutter – muss immer bei ihr bleiben. Es wird schon zum Problem in der Schule.“
„Es kann einem ziemliche Angst machen, wenn man alleine ist.“ Malachai konnte nachfühlen, wie es dem Mädchen ging.
„Das Alleinsein macht mir keine Angst.“
Ihr Vater sah verwirrt aus. „Aber Kleines, das hast du doch gesagt!“
„Was macht dir Angst, Veronica?“, hakte Malachai nach.
„Ich will nicht, dass die anderen alleine sind.“
„Warum nicht?“
„Ihnen könnte etwas Schlimmes passieren.“
„Weißt du, was ihnen passieren könnte?“
„Nein.“
„Na gut. Vielleicht finden wir es ja zusammen heraus, und dann brauchst du keine Angst mehr zu haben. Möchtest du das versuchen?“
„Ja. Grandma hat gesagt, wenn ich es versuche, dann bekomme ich Hot Dogs und heiße Schokolade, und wir gehen in den Laden, und ich kann mir aussuchen, was immer ich will.“
„In einen
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