Der Visionist
alte Wunde wieder aufreißen. Wirkliche Freude oder Glück hat er nicht mehr erlebt, seit …“ Sie brach ab, holte tief Luft, dann fuhr sie fort: „Es gibt nur vereinzelt Tage, an denen es ihm etwas besser geht. Können Sie sich vorstellen, wie das ist, wenn man seinen Vater das ganze Leben lang leiden sehen muss? Und man immer nur versuchen kann, ihm irgendwie zu helfen, ihn einmal zum Lächeln zu bringen? Mein Vater ist nie darüber hinweggekommen.“ Sie verschränkte die Finger.
Sie verschließt sich , dachte Lucian. Als reagiere sie auf seinen Gedanken, schlug Emeline in diesem Moment die Beine übereinander. Lucian fiel auf, dass sie keine Strümpfe trug. Er schaute hoch in ihr Gesicht, aber ihre Augen gaben nichts preis. Eine fremde Frau blickte ihn an. Was immer er gerade dort gesehen hatte, musste seine Einbildung gewesen sein.
„Mich interessiert noch eine Sache. Als ich Solange vor zwanzig Jahren kannte, war sie ein Einzelkind. Ich wusste nicht, dass sie eine Schwester hatte.“
„Meine ganze Familie ist in einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen, als ich acht Jahre alt war. Meine Mutter, meinVater und mein Bruder waren sofort tot, und eine Weile lang war unklar, ob man mich retten konnte. Ich erinnere mich an überhaupt nichts … Ich lag sechs Wochen lang im Koma. Meine Tante und mein Onkel, Solanges Eltern, haben mich jeden Tag besucht. Sie war vor fünf Monaten umgekommen, und die beiden standen noch unter Schock. Doch außer mir war niemand mehr sonst von ihrer Familie am Leben. Als ich wieder gesund war, haben sie mich adoptiert. Ich denke, sie haben wohl doch gehofft, dass ich die Leere, die Solange hinterlassen hat, wieder füllen könnte.“
„Und haben Sie das?“
„Durch mich ist es nur schlimmer geworden. Ich habe sie ständig an Solange erinnert, aber ich konnte sie nicht ersetzen. Meine Tante ist nie mit dem Tod ihrer Tochter fertig geworden. Sie war depressiv, und als ich an die Uni bin, hat sie sich das Leben genommen. Seither betrinkt sich Andre jeden Tag so lange, bis er kaum noch etwas mitbekommt. Er gibt sich die Schuld an allem, was passiert ist – dass er Solange am Abend des Einbruchs im Laden zurückgelassen hat, dass er sich auf seinen Mitarbeiter verlassen hat, der abschließen sollte, dass er seine Frau nicht hat retten können.“ Sie hob schwerfällig die Schultern, als laste auf ihnen das ganze Gewicht der Geschichte, die sie gerade erzählt hatte.
„Es tut mir wirklich sehr leid“, erwiderte Lucian teilnahmsvoll. „Eine nichtssagende Floskel, ich weiß. Aber es gibt nichts, was ich sagen könnte, oder?“
„Die meisten Leute wollen einem über den Schmerz hinweghelfen. Aber so etwas überwindet man nicht, der Schmerz hört nie auf. Man kann ihm nur mit Respekt begegnen und über ähnliche Erfahrungen sprechen, die man selbst gemacht hat. Auf diesem Weg kann einen niemand begleiten, aber es ist gut zu wissen, dass es anderen auch so geht.“ Es klang, als hätte Emeline diese Sätze schon oft gesagt. Hatte sie diese Einstellung von Andre gelernt? Oder von ihrer Adoptivmutter?
Rätsel zu lösen war eines der wenigen Dinge, die Lucian wirklich Spaß machten. Stieß er auf etwas, das er nicht erklären konnte, dann suchte er so lange, bis er eine stichhaltige, logische und plausible Begründung gefunden hatte. Aber er würde nie verstehen, was zwischen ihm und Emeline vor sich ging – im einen Moment war sie eine Fremde, im nächsten kam es ihm vor, als hätte er sie schon immer gekannt. Er musste zurück zu seinem Fall. Wenn auch nur, um auf andere Gedanken zu kommen.
„Könnten Sie und Ihr Vater heute Nachmittag ins Museum kommen und sich das Gemälde anschauen?“
„Es ist besser, wenn Sie das Bild in die Wohnung bringen. So gegen fünf?“
Der Matisse war auf Fingerabdrücke und alle sonstigen Spuren untersucht worden, die Hinweise auf die Person geben könnten, die das Bild zerstört hatte. Es gab keinen guten Grund, warum er es nicht transportieren könnte. Trotzdem hielt Lucian es für keine gute Idee. „Es wird ziemlich hart für Ihren Vater werden, wenn er den Matisse begutachten soll. Denken Sie nicht, dass eine neutralere Umgebung die Sache einfacher für ihn machen würde?“
„Nein, im Gegenteil. Zu Hause ist mein Vater in seiner vertrauten Welt mit all den Dingen, die ihm noch geblieben sind – ein paar Kunstwerke und die Erinnerungen.“
„Und Sie. Sie sind ihm noch geblieben.“
Emeline antwortete nicht, sondern griff nach ihrer
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