Der Visionist
im Februar gewesen, zwei Wochen vor Solanges Geburtstag. Er war von seinem Studentenwohnheim zum berühmten Diamond District an der 47. Straße und der Fifth Avenue gelaufen. In der überdachten Ladenpassage reihten sich Hunderte von gemieteten Juwelenständen aneinander. Über eine Stunde lang hatte er sich ihre Auslagen betrachtet auf der Suche nach einem Geschenk für sie, das ihr gefallen würde und das er sich leisten konnte. Alles, was infrage kam, war entweder zu teuer oder zu nichtssagend. Erst weit hinten im vierten Gebäude, wo es stiller war, weil weniger Besucher vorbeikamen und die Auslagen ausgefallener waren, entdeckte er einen Kasten mit Hunderten von winzigen Anhängern, die alle ungemein kunstvoll angefertigt waren. Dort hatte er den Anhänger erstanden, der nun an Emeline Jacobs’ Hals hing.
Er führte sie zu seinem Büro und forderte sie auf, sich zu setzen. „Was kann ich für Sie tun?“, fragte er.
Sie ließ sich Zeit mit der Antwort. Die Art, wie sie ihn anschaute, kam ihm vertraut vor, seltsam neugierig und doch naiv. Vielleicht täuschte er sich, doch ihm war, als hätte Solange ihn immer fast genauso angesehen, wenn sie ihm etwas sagen wollte. Dann hatte die Künstlerin in ihr jede Einzelheit ihrer Umgebung inspiziert. Zu seiner Überraschung stieg nach so langer Zeit mit einem Mal die Trauer wieder scharf in ihm hoch.
„Mein Vater ist seit Ihrem Besuch sehr angeschlagen“, sagte Emeline schließlich. Er war froh, ihre weiche, kratzige Stimme zu hören, die seine verrückten, sich im Kreis drehenden Gedanken unterbrach.
„Das tut mir leid zu …“
„Falls Sie ihn noch brauchen, ist er bereit, sich das Gemälde anzuschauen.“
Fall Jacobs das kreisförmige Zeichen auf der Rückseite des Matisse identifizieren könnte, würde er Lucian stundenlange Recherchen ersparen. „Das wäre uns eine große Hilfe.“
„Er tut es nicht, um Ihnen zu helfen. Er muss wissen, ob es wirklich dasselbe Bild ist. Für seinen eigenen Seelenfrieden …“ Sie zögerte und schüttelte dann den Kopf, als führe sie immer noch eine Diskussion mit jemandem, der nicht anwesend war. „Ich glaube nicht, dass man über alles hinwegkommen kann. Es ist eine Respektlosigkeit dem Patienten gegenüber, wenn ein Therapeut so tut, als würde man einen geliebten Menschen irgendwann einmal nicht mehr vermissen. Die Konfrontation mit diesem Gemälde könnte ihn emotional vollkommen aus dem Gleichgewicht werfen. Er geht jeden Tag durch die Hölle, Agent Glass. Ich sehe es in seinen Augen, wann immer ich ihn anschaue.“
Aus Emelines eindringlichem, betroffenem Ton war herauszuhören, wie schmerzhaft das alles auch für sie war. Doch sie knetete kein Taschentuch in den Händen oder verriet sonst ihren Kummer durch eine Geste, wie man es normalerweise erwarten würde, wenn jemand über eine solch schwierige Situation redete. Ohne Zweifel stimmte alles, was sie sagte, doch sie hatte sich bewundernswert unter Kontrolle.
„Abschied, das ist, was uns, Du Himmel, an dir wissbar ist, – und Hölle ists genug“, rezitierte Lucian. Er war selbst überrascht, dass das Zitat ihm eingefallen war.
„Emily Dickinson“, murmelte sie. „Ich habe ein Lyrikbändchen zu Hause, in dem dieses Gedicht steht. Die Ecke der Seite ist an der Stelle umgeknickt.“
Lucian brauchte nicht zu fragen, wem das Bändchen gehört hatte. Emeline hatte sicher alle Bücher von Solange an sich genommen. Und was außer den Büchern? Ihre Zeichnungen? Die Tagebücher? Gab es noch Briefe von ihm, die sie gefunden hatte? Waren alle Überreste von Solanges Leben auf sie übergegangen? Was wusste sie über ihn?
„Wir werden alles tun, was in unseren Möglichkeiten steht,damit die Identifizierung für Ihren Vater so schmerzlos wie möglich wird.“
In ihrem Lachen lag eine Bitterkeit, die nicht zu ihrem Alter passen wollte, voll von den Enttäuschungen eines Menschen, der schon viel länger gelebt und viel mehr durchlitten hatte als sie. Der Eindruck, dass es Solange war, mit der er hier saß, war so überwältigend, Lucian konnte sich nicht mehr dagegen wehren.
War es eine Halluzination, eine späte Reaktion auf was immer auch die Massenillusion bei dem Konzert in Wien ausgelöst hatte? Oder hatte dies hier mit seinen Kopfschmerzen zu tun? Er wollte Emeline Jacobs’ kontrollierte Fassade aufbrechen, wollte herausfinden, ob die andere Frau wirklich in ihr war und wo Solange sich versteckte.
„Egal, was Sie auch tun, die Identifizierung wird die
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