Der Visionist
Handtasche. Sie wollte gehen, das Treffen war beendet. Lucian war enttäuscht, dabei hatte er nichts anderes erwarten können. Er wartete, dass sie aufstand, aber sie rührte sich nicht. Sie blieb einfach auf der Couch sitzen und starrte auf den schwarzen Lederbeutel in ihrer Hand.
„Hätten Sie noch ein paar Minuten Zeit für mich?“, fragte sie schließlich, ohne ihn anzuschauen.
„Sicher.“
Emeline öffnete den Beutel und holte ein paar Zettel heraus.Sie faltete sie auseinander, legte sie auf ihren Schoß und fuhr mit dem Zeigefinger über den Knick, um die Papiere zu glätten. Lucian konnte die gedruckte Schrift nicht lesen, weil sie auf dem Kopf stand. Ohne den Blick von den Papieren zu wenden, sagte sie: „Ich habe diese E-Mails ausgedruckt. Meine geschäftliche E-Mail-Adresse kann jeder herausfinden – sie steht auf der Webseite des Ladens.“
„Welcher Laden?“
„Andres Rahmenladen.“
„Da arbeiten Sie?“ Wahrscheinlich hätte ihn das nicht so überraschen sollen, aber er war vollkommen verblüfft.
„Ich bin praktisch dort aufgewachsen. Vor ein paar Jahren wurde Andre zu krank und konnte nicht mehr arbeiten. Ich habe einen Abschluss in Kunstgeschichte. Da habe ich das Geschäft übernommen. Es war die einzig sinnvolle Entscheidung.“ Immer noch fuhr sie über den Knick, als könne sie ihn mit dem Finger ausbügeln.
„Was ist das?“
„Ungefähr sechs Monate, nachdem ich aus dem Krankenhaus entlassen worden war, haben mich meine Adoptiveltern zu einem Therapeuten gebracht. Es war der Reinkarnationsexperte, der mit Ihnen letzten Monat in den Medien war.“
„Malachai Samuels?“
Sie nickte. „Ich war bei ihm und bei einer Ärztin … Dr. Beryl Talmage.“
„Warum das denn?“ Er wollte die Frage sofort zurücknehmen, kaum hatte er sie gestellt.
„Martha und Andre dachten, ich wüsste vielleicht bestimmte Dinge …“
Lucian spürte, wie sich die Härchen in seinem Nacken aufstellten. „Was denn für Dinge?“
„Und sie wünschten es sich beide so sehr“, fuhr Emeline fort. „Es hat alles im Krankenhaus angefangen, als sie das hier gesehen haben …“
Sie strich sich die Ponyfransen aus der Stirn, und Lucian starrte auf die kleine, halbmondförmige Narbe über ihrer rechten Augenbraue.
Es war, als hätte ihm jemand direkt in die Magengrube geschlagen.
„Haben Sie das seit Ihrer Geburt?“, fragte er.
„Nein, es ist kein Geburtsmal. Es stammt von dem Unfall. Solange hatte eine genau gleiche Narbe an der gleichen Stelle. Sie erkennen die Narbe auch, nicht wahr?“
„Tut mir leid, aber ich kann nicht ganz folgen. Wie können Sie die gleiche Narbe wie Solange haben?“
„Haben Sie schon einmal von Walkins gehört?“
„In welchem Zusammenhang?“
„Reinkarnation.“
„Nein.“
Wieder fing sie an, den Knick in den Papieren glattzustreichen. Lucian bemühte sich zu erkennen, was sie so unbedingt wegreiben wollte.
„Es gibt da diese Theorie“, sprach sie schließlich weiter. „Eine Seele, die aufgestiegen ist, aber noch eine Aufgabe zu erfüllen hat, kann in einen Körper eintreten, der schon tot ist oder gerade verlassen wird – zum Beispiel der Körper eines Menschen, der Selbstmord begeht.“
„Oder der Körper eines Kindes, das im Koma liegt.“
Sie nickte. „Meine Adoptiveltern wollten unbedingt glauben, dass mir das passiert ist und die Narbe daher rührt. Mögliche rationale Erklärungen wollten sie gar nicht mehr hören. Unsere Familien haben viel Zeit zusammen verbracht. Ich habe Solange sehr gernegehabt. Sie war wie eine ältere Schwester für mich, ich habe zur ihr aufgeschaut. Und sie war eine Künstlerin, das hat mich am allermeisten beeindruckt. Ich durfte für sie Modell stehen, und dann hat sie mir die Zeichnungen gezeigt. Für mich war es wie Zauberei. Jedes Kind übernimmt Angewohnheiten von Menschen, die es verehrt,und erinnert sich an alle möglichen Dinge über sie. Aber Martha und Andre waren überzeugt, dass Solanges Seele, ihr Geist, in meinen Körper eingestiegen war, als ich im Koma lag. Sie haben geglaubt, dass Solange in mir weiterlebt.“
„Wie lange waren Sie bei der Phoenix Foundation in Therapie?“
„Ein paar Monate. Die Ärzte meinten, es wäre möglich, dass es ein Fall von Reinkarnation ist. Aber ich war nicht wirklich geeignet für Hypnosetherapie. Ich konnte mich nicht so lange konzentrieren, und wir sind nie weit gekommen. Ich hatte Angst vor den Sitzungen. Doch meine Tante und mein Onkel wünschten sich so
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