Der Visionist
Gedanken zurückzugehen zu dem Abend vor zwanzig Jahren und dem, was im Innern des Laden geschehen war. Kaum war sie hinter der Ladentür verschwunden, raste er durch die Stadt zur Phoenix Foundation.
„Wie geht es Ihnen?“, fragte Dr. Bellmer.
„Ganz gut, danke.“
„Was machen die Kopfschmerzen?“
„Sie sind immer noch da.“
„Im Moment auch?“
„Ja.“
„Haben Sie heute Morgen gezeichnet?“
Auf diese Fragen musste er die Antworten nicht erfinden. Er erzählte, was am Morgen vor der Dämmerung passiert war. „Ich bin gegen vier aufgewacht. Es war wieder dieselbe Frau, die dunkelhaarige Südländerin.“
„Erinnern Sie sich, was Sie geweckt hat?“
„Ich kann mich an nichts erinnern. Ich bin aufgewacht und musste zeichnen. Es gibt nie einen Anlass oder einen Grund.“
„Ich würde Sie heute gerne noch einmal hypnotisieren. Einverstanden?“
„Ja.“
Bellmer benutzte die gleichen Instruktionen und Bilder wie beim letzten Mal. Lucian wehrte sich gegen ihre Stimme und gegen die Versuchung, sich voll zu entspannen.
Zu seiner Überraschung sagte sie plötzlich: „Es funktioniert heute nicht, oder?“
„Ich weiß nicht, warum …“ Eine Lüge.
„Dann versuchen wir heute eben etwas anderes“, sagte sie. Vorsichtig drückte sie mit einem Finger zwischen seine Augenbrauen. „Spüren Sie das?“
Er nick te.
Sie ließ den Finger noch einen Moment auf der Stelle liegen, dann nahm sie ihre Hand weg und setzte sich wieder. „Wer im alten Ägypten das wahre Wissen der esoterischen Mysterienschulen erlernen wollte, musste eine harte Ausbildung durchlaufen. Dazu gehörten eine vierzig Tage dauernde Fastenzeit und das Erlernen des richtigen Atmens, um sich selbst bewusst zu werden und Achtsamkeit zu entwickeln. Erst wenn man fühlen konnte – und nicht mehr intellektuell wahrnahm –, wurde einem das gelehrt, was die fünfte Technik genannt wird. Die Aufmerksamkeit zwischen den Augenbrauen: Lass das Denken vor dein geistiges Auge treten. Lass deine Form sich füllen mit Atemessenz bis zum Scheitel des Kopfes – und von dort niederregnen als Licht. Die meisten alten Kulturen glauben, dass wir ein drittes, inneres Auge haben. Es sitzt hinter der Stelle genau zwischen den Augenbrauen. In Dutzenden von abergläubischen und metaphysischen Theorien wurde über die Funktion dieses geheimnisvollen Auges spekuliert. So wird gesagt, es sei ein schlafendes Organ, das im Wachzustand telepathische Kommunikationermögliche und übernatürliche Kräfte auslösen könne. In anderen Theorien kontrolliert das dritte Auge die Erinnerungen oder steuert außerkörperliche Erfahrungen und Astralreisen. Wir wissen heute, dass die Zirbeldrüse hinter der Stirn sitzt. Sie produziert das Hormon Melatonin, das den Schlaf-Wach-Rhythmus und andere zeitabhängige Körperrhythmen reguliert. Doch die antiken Mystiker hatten eine viel elegantere Erklärung für ihre Funktion. Durch Konzentration, so sagten sie, könne man das Dritte Auge öffnen. Es wird zu einem Portal, durch das man in einen außerordentlich wachen Zustand von Tiefenbewusstsein eintreten kann. Buddha sagt, dass in diesem Zustand, dem Reich des Dritten Auges, Traum und Wirklichkeit eins sind. Das Dritte Auge zu öffnen ist auch ein Weg, um in Hypnose zu treten, und deshalb sind die Theorien interessant für unsere Sitzungen.“
Während sie ihm alles erklärte, beobachtete Iris ihren Patienten. Er war offensichtlich neugierig, aber der rationale Denker in ihm schien sich heftig zu sträuben. Sie hatte diesen Gesichtsausdruck schon bei anderen Patienten gesehen, aber bei James spiegelten sich die widerstreitenden Gefühle übermäßig deutlich in seiner Miene wider. Und sie sah noch etwas anderes. Hatten ihn allein die faszinierenden Möglichkeiten, die diese Theorien eröffneten, überzeugt? Oder war es eine Art Erinnerung gewesen, die sie in seinem Gesicht hatte aufblitzen sehen, so als hätte er das alles schon einmal gewusst und nur vergessen?
„Ich möchte, dass Sie versuchen, durch Ihr Drittes Auge in den Zustand der Hypnose einzutreten. Berühren Sie mit dem Zeigefinger die Stelle zwischen Ihren Augenbrauen und schließen Sie, während Ihr Finger noch auf der Stelle liegt, die Augen. Lassen Sie beide Augen geschlossen und ziehen Sie sie zu diesem Punkt. Sie werden ein seltsames Gefühl in Ihrem Innern spüren, wenn das Dritte Auge erwacht.“ Sie wartete. Iriswusste, dass auch er es spüren würde, weil es bis jetzt noch bei jedem ihrer Patienten
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