Der Visionist
er noch einmal, wieder mit schmerzverzerrter Stimme.
„Was ist mit Iantha passiert?“
„Sie ist fort.“
„Wo ist sie hin?“
„Es ist alles meine Schuld.“
„Ist sie tot?“
„Es ist meine Schuld.“
Iris hielt den Atem an, als würde sein Kummer sonst mit ihrem nächsten Atemzug in sie eindringen.
„Alles … meine … Schuld.“
In jedem Wort lag eine solch furchtbare Pein. Es klang, als würde jede einzelne Silbe in ihn fahren wie eine scharfe Klinge. „Blende den Schmerz aus. Schieb ihn fort von dir. Du bist nicht der Schmerz. Du kannst dich an den Schmerz erinnern, aber du musst ihn nicht noch einmal durchleben. Tritt weg von dem Schmerz.“
Der leidende Ausdruck in seinem Gesicht ließ nach, er entspannte sich etwas. „Kannst du mir erzählen, was geschehen ist? Hat es etwas mit dem Auftrag zu tun? Ist Zenobia wieder darin verwickelt?“
Er nick te.
„Erzähl mir, was passiert ist.“
„Pythagoras wurde aus Italien verbannt. Er möchte im Exil eine Schule gründen, hier in Delphi, wo es sicher ist. Wir sind von schützenden Bergen umgeben, und die Stadt liegt so hoch, dass wir jeden Feind sehen können, der sich uns nähert. Ein Priester aus dem Kult des Philosophen in Kroton kam als Erster, um mit dem Bau der Schule zu beginnen, und es gab eine Ausschreibung für eine Statue aus Gold und Elfenbein, die das Zentrum des Schlaftempels werden soll. Mein Entwurf hat gewonnen. Zenobia war außer sich vor Wut.“
„Wann wurde die Entscheidung getroffen?“, fragte Iris. „Vor zwei Wochen. Seither läuft er meist betrunken herum und erzählt allen, die es hören wollen, ich besäße weder das Talent noch das Können für einen so wichtigen Auftrag. Wenn er zu viel Wein getrunken hat, neigt Zenobia zur Gewalt. Ich machte mir Sorgen um Iantha und auch um die Schätze.“
„Welche Schätze?“
„Der Priester gab uns eine Schatulle, die gefüllt war mit wertvollen Metallen und Steinen für die Skulptur. Elfenbein für das Gesicht, die Hände und Füße der Statue. Gold- und Silberplatten und Dutzende von Halbedelsteinen, besonders solche mit Eigenschaften, die zu dem Gott gehören, dessen Abbild wir aus dem Stein meißeln sollten. Dunkelgrünen Malachit,der beruhigt und tröstet und Schlaf bringt und die Gabe der Meditation. Edler Lapis mit goldenen Adern, der das mystische Denken anregt. Cremebrauner Jaspis mit violetten Einsprengseln, der die Sorgen vertreibt; große Brocken von Amethyst, der die Träume der Menschen lenkt. So viele Steine … Und ein heiliges Objekt, das der große Philosoph im Innern der Statue verbergen wollte. Der Priester hatte Sorge, dass es wirklich unsichtbar sein würde, aber Statuen wie diese sind groß und aufwendig gestaltet. Man kann ohne Weiteres viele solcher Schätze und Geheimnisse darin verbergen.“
Telamon hielt inne, setzte sich auf und holte tief Luft. Dann erzählte er weiter. „Große Menschenmengen pilgern zu unserem Orakel. An den vier Tagen im Jahr, wenn das Orakel für die Öffentlichkeit zugänglich ist, kommen Würdenträger aus Griechenland und fremden Reichen nach Delphi, Könige, Bürger und Volk von überall her. Sie verstopfen die Wege und nächtigen draußen in den Wäldern, und die Reichen zahlen große Summen, um den Massen zu entgehen. Wir sind sehr wachsam, damit keine Feinde in die Stadt gelangen. Doch vor zwei Tagen erschien eine Gruppe Athener, die sich als Pilger verkleidet hatten. Sie griffen das Orakel an. Alle Männer wurden gebraucht, wir mussten kämpfen und das Orakel verteidigen. Ich nahm zwei Lehrlinge mit, einen ließ ich zurück, zum Schutz von Iantha und den Schätzen des Priesters. Ich hatte keine andere Wahl. Als Bürger gilt meine Pflicht zuerst meiner Stadt. Ich konnte nicht daheim bleiben.“
Seine Stimme brach, und Iris bekam Angst. Sie überlegte, ob sie die Hypnose abbrechen sollte, doch zuerst wollte sie versuchen, ihn zu beruhigen. „Ich weiß, dass du in den Kampf ziehen musstest. Und es ist nicht deine Schuld. Willst du mir erzählen, was dann geschehen ist?“
Für einen Moment saß er stumm und bewegte sich nicht, doch die Furcht vor dem, was er nun erzählen sollte, strahlte in mächtigen Wellen von ihm aus und überrollte sie. Wenn siedieses Grauen so stark erspüren konnte, musste es noch unendlich schlimmer sein, wenn er es selbst zum zweiten Mal durchlebte. Aber es war wichtig, dass er dieses Ereignis durchstand. Sonst würde er nie erfahren, warum sein Unbewusstes ihn jede Nacht drängte,
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