Der Visionist
diese Zeichnungen anzufertigen.
„Es wird alles gut, Telamon“, flüsterte sie. „Was ist geschehen?“
„Zenobia kam zur Werkstatt, als ich weg war. Er stach auf meinen Lehrling ein und hat ihn liegen lassen, sodass er verblutete. Er stahl die Schatulle von Pythagoras’ Priester, und er zerstörte das Innengerüst der Statue, mit dem wir schon begonnen hatten. Für sein Zerstörungswerk benutzte er sogar unsere Werkzeuge! Und er schändete nicht nur die kaum begonnene Statue. In die Gesichter und Leiber von schon vollendeten Statuen kratzte er wütende Linien. Vor der Werkstatt entzündete er einen Scheiterhaufen und verbrannte die elfenbeinernen Hände, Füße und Gesichter. Und dann … aber schlimmer war … viel schlimmer als das war … er … er … Iantha war …“
Iris wusste, was geschehen war, bevor Telamon es laut aussprach. Sie konnte den Gedanken in ihm aufbrausen spüren, dann spuckte er die Worte förmlich aus. „Er schändete meine Frau. In meinem Bett nahm er sie gegen ihren Willen. Und ich war nicht da, um sie zu schützen. Ich verdiene es nicht, dass ich noch am Leben bin.“
„Wie hättest du das ahnen können?“
„Nicht dafür müsste man mich bestrafen.“
„Für was dann?“
Er senkte seine Stimme, bis nur noch ein leises Flüstern zu hören war. „Für das, was dann geschah.“
Iris wartete und ließ ihm Zeit.
„Er beschmutzte sie.“ Telamons Stimme zitterte vor Abscheu. „Er berührte Iantha mit seinen dreckigen Händen. Zenobia hasste mich schon immer, er wollte immer das zerstören,was mir gehört. Und jetzt war es ihm endlich gelungen. Iantha war nicht mehr mein Weib. Sie gehörte ihm. Weil er sie sich mit Gewalt, mit furchtbarer Gewalt genommen hatte, war nun sein Samen in ihr, und ich übergab mich schon beim Gedanken daran.“ Er sprach noch leiser, obwohl es schon fast unmöglich war, ihn zu verstehen, und fuhr fort mit seiner Beichte. „Als sie mich wieder berühren wollte … da stieß ich sie weg von mir.“
„Wie hat sie reagiert? Was ist passiert?“
„Iantha …“, begann er, brach ab und setzte noch einmal an.
„Iantha dachte, die Zerstörung der Werkstatt sei der Grund für mein Verhalten. Sie beschloss, etwas dagegen zu tun. Ohne es mir zu sagen, bestach sie gestern einen Diener Zenobias, damit der ihr sagte, wann sein Herr das Haus verließ. Als Zenobia dann gegangen war, brach sie ein, um die Schatulle mit den Edelsteinen zurückzuholen. Sie tat es für mich, damit ich den Gott meißeln und den Auftrag des Pythagoras erfüllen kann. Sie war in seiner Werkstatt und füllte ihre Taschen mit den kleinsten der Steine, damit die Schatulle leicht war, wenn sie sie zurück in unsere Werkstatt trug … um meine Trauer zu heilen und damit ich endlich wieder anfangen konnte, an der Statue zu arbeiten. Da kam er zurück und entdeckte sie. Er schlug sie, dann zog er ihr die Kleider vom Leib und vergewaltigte sie noch einmal, wieder und immer wieder. Er stieß so tief mit seinem Schwanz in sie hinein, dass in ihrem Innern etwas zerriss, und als er seine Gier gestillt hatte, hob er ihren besudelten nackten Körper hoch und trug sie durch die Straßen. Ihr wunderschönes langes schwarzes Haar schleifte im Schmutz, ihr Blut hinterließ eine Spur von seiner Werkstatt zu meiner. Dann stand er draußen vor unserer Tür und schrie: ‚Telamon, dein Weib ist zurück! Deine süße diebische Hure ist wieder zu Hause!‘“
Das laute Hupen eines Autos unten auf der Straße riss Iris aus der Vergangenheit zurück in die Gegenwart. Sie hatte ihrBüro und die Stadt und ihre Zeit verlassen und hatte in Telamons Welt gelebt, die vor tausend Jahren existiert hatte.
„Was ist mit Iantha passiert?“, flüsterte sie und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen vom Gesicht.
„Die Ärzte konnten die Blutungen nicht stillen. Meine Frau ist gestorben, weil … weil ich sie nicht schützen konnte vor … vor meinem eigenen Stolz.“
25. KAPITEL
Es war Donnerstagabend, kurz nach sechs, als Ali Samimi und Farid Taghinia aus dem Lift stiegen und in den holzgetäfelten Gang traten. Obwohl es nach Feierabend war, erwartete sie noch eine Sekretärin am Empfang. Sie trug eine blaue Bluse und eine eng geschnittene schwarze Hose, die ihre Figur betonte. In Samimis Heimat wäre ihr Kleidungsstil als unzüchtig verurteilt worden. Sie führte die beiden Männer durch den stillen Korridor der Büroräume von Weil, Weston & Young. Er war mit einem teuren Perser ausgelegt. Der
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