Der Visionist
gewonnen hatten, wandten sich ab von ihm. Da verstand er zum ersten Mal, was für ein schlechter Mensch er gewesen war, und er gelobte Besserung. Wenn jemand als Kind gemein zu mir oder meiner Schwester war, haben wir ihn Herrn oder Frau Stern genannt. Wir haben immer gebetet, dass eine gute Seele kommen möge und sich in ihm niederlassen würde.“ Elgin lachte leise, als er sich daran erinnerte.
„Die wandernde Seele eignet sich den neuen Körper nicht immer gewaltsam an. Manchmal integriert sie sich, und der Mensch erlaubt es ohne Widerstand. Die beiden führen dann eine friedliche Koexistenz.“
„Lange nicht so spannend wie die Geschichte meines Vaters.“
„Nein. Aber die wenigsten Erfahrungen von Seelenwanderungsind unterhaltsame Geschichten. Die Menschen kommen nicht oft als Kleopatra oder Napoleon zurück, und es gibt kaum Seelen, die eine feindliche Übernahme durchführen.“ Samuels lächelte sarkastisch. „Aber besprechen wir erst mal, wie Sie anderthalb Jahrhunderte an Briefverkehr und Tagebüchern katalogisieren wollen.“
Eine Stelle in einer Umgebung mit hochrangigem wissenschaftlichem Austausch, einem festen Gehalt und einem Aufgabenbereich, der historische Recherchen umfasste, entsprach viel mehr dem, was Elgin früher als Karriere vorgeschwebt hatte, bevor er beim FBI gelandet war. Damals hatte er gerade sein Studium in Bibliothekswissenschaften an der George Washington University beendet und arbeitete an seiner Magisterarbeit über die Beziehungen der Library of Congress und der staatlichen Rüstungsforschung in der Ära nach dem Kalten Krieg. Einer seiner Professoren hatte ihn für eine offene Stelle beim FBI vorgeschlagen. Wie fast alle Jungen seiner Generation hatte Elgin jeden Sonntagabend mit seinem Vater die Serie F.B.I. im Fernsehen angeschaut, aber er hatte nie davon geträumt, selbst einmal Agent beim FBI zu werden. In die Serie hatte sich der schüchterne Junge geflüchtet, weil er nirgends sonst richtig dazugehörte. Als Kind stotterte er und litt unter Asthma, er trug eine Brille mit dicken Gläsern. Doch Bibliotheken waren das wirkliche Zuhause für den zarten, kränklichen Jungen. Bücher waren lehrreich und unterhaltsam, aber sie boten ihm auch Zuflucht und Trost. Die Vorstellung, dass er in der Bibliothek des FBI in Quantico arbeiten könnte, war Elgin Barindra damals traumhaft erschienen.
Er war sich sicher gewesen, dass er den Job nicht bekommen würde. Nie im Leben würde er die harte körperliche Ausbildung absolvieren können. Doch für den Bibliotheksjob musste er nur die Überprüfung seines persönlichen und politischen Hintergrunds durch das FBI bestehen und ein paar Grundtechniken in Selbstverteidigung lernen.
Für die nächsten fünf Jahre war er mehr als zufrieden mit seiner Arbeit in der FBI-Bibliothek. Nach dem 11. September suchte das FBI einen Agenten mit Bibliothekserfahrung für eine Undercover-Mission in einer Universitätsbibliothek. Elgin bewarb sich. Seither hatte er zwei weitere Missionen im Feld angenommen. Anfänglich war er immer wahnsinnig nervös, aber sobald er am Einsatzort war, beruhigte er sich und zog seinen Auftrag durch.
Und nun saß er Malachai Samuels von der Phoenix Foundation gegenüber. Er konzentrierte sich darauf, was sein neuer Boss über die Archivierung dieser Mengen an unkatalogisiertem Material zu sagen hatte. Am liebsten hätte er sofort damit angefangen. Auf welche unbekannten Geschichten würde er wohl stoßen? Welche Geheimnisse würde er entdecken?
„Es gibt ein paar Schlüsselwörter, nach denen Sie Ausschau halten sollen. Besonders in den Briefen und Tagebüchern aus der Frühzeit des Phoenix Clubs.“ Samuels zog ein Blatt Papier aus der Innentasche seines Jacketts und legte es zwischen sie auf den Tisch.
Elgin schaute sich die von Hand geschriebene Liste von sechs Objekten an. Dabei verzog er keine Miene. Sein neuer Arbeitgeber sollte nicht mitbekommen, wie sehr ihn die Aufgabe erstaunte.
Topf mit wohlriechendem Wachs
Reflexionskugeln
Hologrammball
Knochenflöte
Wort-Halter
Feuer- und Wasserperlen
Es sah ziemlich genau wie die Liste aus, von der Lucian und Matt gesprochen hatten. In Wien hatte die Vorsitzende dieser Gesellschaft Lucian eine solche Liste gezeigt, als er angegriffenund die Frau ermordet worden war. Konnte es sein, dass diese Liste jetzt vor Elgin auf dem Tisch lag?
„Es gibt einen umfangreichen Briefwechsel zwischen einem halben Dutzend wichtiger Industrieller aus der Mitte des 19.
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