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Der Vogelmann

Der Vogelmann

Titel: Der Vogelmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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den roten Dächern des Observatoriums eine Schar zwitschernder Stare in die Luft. Caffery schwieg einen Moment und starrte sie seltsam erschüttert an.
    »Vögel.«
    Rebecca neigte den Kopf zurück, um hinaufzusehen, und das Abendlicht strich über ihr Gesicht. »Ah.« Sie lächelte. »Du warst nicht geboren für den Tod, unsterblicher Vogel. Keine
hungrigen Generationen treten dich in den Staub.« Die Stare drehten sich in der Luft, hielten einen zitternden Moment lang inne, stießen dann auf den Boden herab und erfüllten die Luft mit ihrem Flügelschlag. Rebecca zog die Schultern hoch. »Oh.«
    Die Vögel flogen wieder nach oben und waren plötzlich so schnell über dem Hügel verschwunden, wie sie aufgetaucht waren. Eine Feder taumelte durch die Luft und landete zu Jacks Füßen.
    »Ich dachte, sie wollten uns angreifen!« Rebecca lachte, strich sich das Haar glatt und kicherte über ihre Nervosität. »Was war das?«
    »Ich weiß nicht.« Er schüttelte den Kopf. Er hatte die Vögel aus nächster Nähe gesehen, die gesprenkelte Iris in ihren Augen wahrgenommen, und es hatte ihm den Magen zusammengezogen. Er dachte an Veronica, an den Haufen aus Knochen, an ihr angespanntes, ungesundes Lächeln, als Penderecki in den Raum trat, ganz so, als hätte sie sich den Auftritt ausgedacht. Plötzlich drückte er die Zigarette aus und stand auf. »Ich sollte lieber gehen.«
    »Also schenken Sie ihr doch Aufmerksamkeit.«
    »Ja.« Er krempelte die Ärmel herunter. »Wahrscheinlich schon.«
     
    Veronicas roter Tigra war vor dem Haus geparkt. Selbstgefällig. Als hätte er ein Recht, dort zu stehen. Es war inzwischen dunkel geworden, und über den Dächern, auf Pendereckis Seite des Bahndamms, stieg eine dünne Rauchsäule auf. Das Haus war dunkel. Caffery sperrte auf, er war auf der Hut und auf das Schlimmste gefaßt.
    »Veronica?« In seinem eigenen Haus von Nervosität ergriffen, blieb er auf dem Fußabstreifer stehen. »VERONICA?«
    Schweigen. Er drehte das Licht im Flur an und blieb blinzelnd stehen. Alles war so, wie er es verlassen hatte: Der Flurteppich war leicht verschoben, die Tüte aus der Reinigung, die er am Morgen vergessen hatte, lehnte noch immer an der
Fußleiste, und durch die offene Küchentür sah er die Umrisse seiner morgendlichen Kaffeetasse auf dem Tisch. Er schloß die Tür, hängte seine Jacke ans Treppengeländer und ging in die Küche.
    »Veronica?« Es war stickig dort drinnen. Eine ihrer Pflanzen auf dem Fensterbrett, eine Bougainvillea, war im Lauf des Tages in obszönem Rot aufgeblüht, und ihre fleischigen Blütenblätter schienen den ganzen Sauerstoff im Haus einzusaugen. Hastig öffnete er das Fenster, ließ die von beißendem Rauchgeruch erfüllte Nachtluft ein und trank schnell einen Schluck Glenmorangie aus der Flasche.
    Im Wohnzimmer war niemand. Veronicas kostbare Gläser in der Teekiste warteten immer noch darauf, abgeholt zu werden. Er öffnete die Fenstertüren und ging in den Flur zurück. Erst im Eßzimmer fand er den ersten Hinweis auf ihre Anwesenheit. Der Raum war gründlich gesäubert worden, auf besessene Art geradezu, und der Geruch von nach Lavendel duftender Möbelpolitur lastete noch schwer in der Luft.
    Er stand lange in der Tür, bevor er auf dem Kaminsims eine schwarzgeränderte Karte entdeckte, wie sie bei Trauerfällen verwendet wird. Die Nachricht war schlicht.
    Zum Teufel mit dir, Jack!
    In Liebe, Veronica
    »Danke, Veronica.« Er steckte die Karte in die Tasche, öffnete die Erkerfenster und ging in den Flur zurück. Die einzigen Geräusche waren das Ticken der Standuhr und das träge, mechanische Summen einer sterbenden Fliege. Also oben. Sie mußte oben sein.
    »Ich bin hier, Veronica.« Er blieb auf halben Weg zum Treppenabsatz stehen und sah zu den geschlossenen Schlafzimmertüren hoch. »Veronica.« Schweigen. Er stieg die letzten paar Stufen hinauf und blieb mit der Hand auf der Schlafzimmertürklinke stehen.
    Er war plötzlich unsäglich müde. Wenn sie eine Überdosis genommen hatte und auf seinem Bett lag, würde er eine weitere
schlaflose Nacht verbringen. Notaufnahme. Magenauspumpen. Psychiatrische Untersuchung. Ihre granitharte Familie, die schweigend dasäße und ihm wortlos deutlich machen würde, daß er die Verantwortung dafür trüge.
    Oder er könnte, er könnte, der Gedanke ließ ihn erschauern, sich einfach umdrehen und aus der Tür gehen. Rebecca anrufen, sich entschuldigen, weil er gegangen war, sie auf einen Drink treffen, sie im Lauf der

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