Der Vollstrecker
zurück zum Bücherregal.
Garcia nickte und legte den Zeitungsausschnitt wieder in die Schublade. »Für die Party heute Abend sind wir wohl nicht in der richtigen Stimmung«, meinte er dann beiläufig, während er die Heiligenstatuetten auf dem kleinen Altar in Augenschein nahm.
Die Abschiedsfeier für Captain Bolter, der in den Ruhestand ging, fand im Redwood Bar & Grill statt und sollte um fünf Uhr nachmittags beginnen.
»Wohl nicht.« Hunter ging in die Hocke, zog ein in Leder gebundenes Buch aus dem untersten Regal und blätterte darin, bevor er es zurückstellte und den Vorgang mit dem nächsten Buch wiederholte.
Und dem nächsten.
Und dem nächsten.
Sie waren allesamt handgeschrieben.
»Was hast du da?«, wollte Garcia wissen, der beobachtet hatte, wie Hunter mit groÃem Interesse einige Seiten las.
»Jede Menge Tagebücher â oder so was Ãhnliches«, antwortete Hunter und stand auf. Er sah auf der ersten Seite nach, dann auf der letzten. »Exakt zweihundert Seiten.« Erneutes Blättern. »Und sie sind alle von oben bis unten vollgeschrieben.«
Garcia trat zu Hunter und bückte sich. »Das sind ja mindestens dreiÃig oder fünfunddreiÃig Bände. Wenn jede Seite einen Tag bedeutet, dann hat er fast sein gesamtes Leben dokumentiert. Wozu das?«
»Mehr als zwanzig Jahre«, sagte Hunter und schlug aufs Geratewohl das Buch auf, das er gerade in den Händen hielt. »Sein Tagesablauf, seine Gedanken, seine Zweifel â alles schwarz auf weiÃ. Hier, hör dir das an.« Er drehte sich zu Garcia um.
Heute war mir beim Beten das Herz schwer. Ich habe für eine Frau gebetet â Rosa Perez. Seit fünf Jahren kam sie regelmäÃig in unsere Kirche. Sie hat für eine Sache gebetet, immer nur für eine einzige Sache: dass sie endlich ein Kind bekommt. Vor acht Jahren war sie von mehreren Männern vergewaltigt worden, dabei hatte sie sich schwere Verletzungen an der Gebärmutter zugezogen. Es ist gleich um die Ecke von hier passiert. Damals war sie sechzehn. Drei Jahre später hat sie geheiratet, und seitdem versuchten sie und ihr Mann Antonio, ein Kind zu bekommen. Letztes Jahr wurden ihre Gebete endlich erhört. Sie wurde schwanger. Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie einen Menschen gesehen, der so glücklich war. Vor zwei Monaten hat sie einen kleinen Jungen zur Welt gebracht, Miguel. Aber es gab Komplikationen, das Baby war nicht gesund. Er hat zehn Tage lang tapfer gekämpft, aber seine Lunge und sein Herz waren zu schwach. Am elften Tag nach seiner Geburt ist er gestorben.
Nachdem sie aus dem Krankenhaus entlassen worden war, kam Rosa nur noch ein Mal hierher. Sie brachte eine einzige Frage mit: WARUM ? Ich sah es in ihren Augen. Da war kein Glaube mehr. Ihr Glaube war zusammen mit ihrem Sohn gestorben.
Heute â ganz allein â hat sie sich in ihrer kleinen Wohnung in der East Hatchway Street das Leben genommen. Jetzt mache ich mir Sorgen um Antonio, den der Tod seiner Frau in einen Abgrund der Verzweiflung gestürzt hat. Und obwohl mein Glaube unerschütterlich ist, so sehne auch ich mich nach einer Antwort auf Rosas Frage. WARUM , Herr? Warum gibst du uns etwas, nur um es uns wieder zu nehmen?
Hunter sah Garcia an.
»Wann war das?«
»Keine Ahnung, die Einträge sind nicht datiert.«
Garcia schüttelte den Kopf und fasste sich an die Stirn. »Das ist eine traurige Geschichte. Wie es aussieht, zweifeln sogar Priester hin und wieder an ihrem Glauben.«
Hunter klappte das Tagebuch zu und stellte es zurück ins Regal. »Falls Vater Fabian Angst um sein Leben hatte, dann steht darüber bestimmt etwas in einem dieser Bücher hier.«
Garcia stieà langsam die Luft aus. »Um die alle durchzuarbeiten, bräuchten wir aber zusätzliches Personal.«
»Vielleicht«, meinte Hunter und nahm das Buch ganz rechts zur Hand. »Aber ich spekuliere darauf, dass Vater Fabian ein ordnungsliebender Mensch war. Falls dem so ist, müssten die Tagebücher eigentlich in chronologischer Reihenfolge im Regal stehen. Wenn ihm also in jüngster Zeit etwas zu schaffen gemacht hat, müssten wir es im aktuellen Buch finden.«
12
A ls Hunter im Redwood Bar & Grill eintraf, war die Party bereits in vollem Gange. Es wimmelte nur so von Cops. Diejenigen von ihnen, die im Dienst waren, trugen Piepser am Gürtel und hatten,
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