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Der Vollzeitmann

Titel: Der Vollzeitmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Achim Achilles
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schienen die Schenkel einfach rechtwinklig wegzuknicken. Auf den letzten Kilometern hatte er noch einmal alles gegeben. Er war gelaufen, gelaufen, gelaufen, aber seine Uhr zeigte durchweg schlechte Zeiten. Bei Kilometer fünfzehn lag er bei einem Durchschnittstempo von fünf Minuten und zehn Sekunden auf den Kilometer. Das war nicht nur schlecht, das war völlig indiskutabel. Wäre Attila sein eigener Mitarbeiter gewesen, er hätte sich gefeuert.
    Wenn er zu Hause nicht mindestens auf eine durchschnittliche Kilometerzeit käme, die mit einer Vier beginnt, dann wäre der ganze Tag im Eimer.
    »Reiß dich zusammen«, schrie Attila sich an.
    »Willst du alles geben?«, brüllte er im Park, wo er sich allein wähnte und versuchte, den unerbittlichen Tonfall eines Marine-Ausbilders zu imitieren. »Ja«, antwortete er im lauten, aber unterwürfigen Rekrutenton.
    »Gibst du wirklich alles?«, fragte der Ausbilder.
    »Nein«, gestand der Rekrut kleinlaut.
    »Wirst du sofort anfangen?«, fragte der Ausbilder, »jetzt, in dieser Sekunde?«
    »Sir! Yes! Sir!«, antwortete der Rekrut.
    Attila konzentrierte sich auf seine Schritte. Schneller, länger,
kräftiger mussten sie sein. Er blickte immer wieder auf die Uhr. Alle drei Minuten sprang das Display um; sein Temposchnitt verbesserte sich, aber nur quälend langsam. Seine Beine wurden immer schwerer. Attila rannte an drei U-Bahn-Stationen vorbei. Er hätte nur die Treppen hinabsteigen müssen. »Das ist eine Prüfung«, fluchte er, »das ist eine Scheißprüfung.« Verbissen erhöhte er das Tempo.
    »Das ist eine Prüfung, das ist eine Scheißprüfung.«
    Als er in seine Straße einbog, zeigte die Uhr fünf Minuten und drei Sekunden auf den Kilometer. Verdammter Mist. Mit dieser elenden Versager-Fünf konnte er dieses Training nicht beenden. Attila rannte an der Fassade aus Glas und Sandstein vorbei, hinter der seine Wohnung verborgen lag. Er schätzte das diskrete Understatement dieses Neubaus, der nicht die geringsten Hinweise darauf gab, dass sich darin die Crème der Berliner Strategieberater und Banker verbarg. Wer nicht mindestens eine Million im Jahr machte, durfte sich hier nicht mal als Hausmeister-Praktikant bewerben. Ein Haus mit Stil und Klasse.
    Im Moment war ihm allerdings völlig gleichgültig, ob ihn seine Nachbarn sehen würden, so struppig und verschwitzt. Alles was zählte, war sein Durchschnittstempo. Im gestreckten Galopp schoss Attila die lange gerade Straße entlang. Die Vorstellung, dass er beobachtet werden würde, gab ihm neue Kraft, jedenfalls bis zur nächsten Ecke. Die Uhr zeigte fünf Minuten und zwei Sekunden. Attila bog rechts ab und zwang seine Bleibeine zu einem letzten Aufbäumen. Einmal um den Block, das musste genügen. Doch als er wieder in seiner Straße angelangt war,
stand die Uhr nur auf fünf Minuten und einer Sekunde. Diese Scheißdinger waren sündteuer, aber maßen trotzdem nicht, was sie sollten.
    Attila passierte zum zweiten Mal sein Haus. Spätestens jetzt würden ihn die Mitbewohner für komplett behämmert halten. Egal. Man darf sich ein Mal am Tag blamieren. Pumpend warf er sich auf die letzte Runde. Wo mal seine Beine waren, donnerten jetzt T-Träger in die Gehwegplatten. Attila spürte einen Krampf aufsteigen, tückischerweise im Oberschenkel, wo man deutlich mehr davon hatte. Er verbot sich, noch einmal auf die Uhr zu schauen. Er wusste, dass er es schaffen würde. Er glaubte an sich. An wen denn sonst? Tatta-taaa, tatta-taaa… Die Titelmusik von »Rocky I« trompetete durch sein Hirn. Ich bin ein Sieger, schrie er sich an. Mit den letzten Schritten drückte Attila auf den großen roten Knopf seiner GPS-Uhr: 4:59.58 min/km. Yes! Geht doch. Alles geht. Du musst nur wollen.
    Attila war zu schwach, um die Treppen in den dritten Stock zu nehmen, wie es sich für einen Sportler gehört hätte. Er drückte den Fahrstuhlknopf. Schweißtropfen klecksten auf den Marmor. An der Wohnungstür gab Attila die Zahlenkombination ein. Ein Leben ohne Schlüssel, das war echter Luxus.
    Es war leise in der Wohnung, schlafleise. Offenbar lag Camille noch im Bett. Dabei wusste sie ganz genau, dass er sich auf nichts mehr freute als auf sein Eiweißomelette. Drei Eier ohne das Gelb, das zu viel Cholesterin und Fett enthielt.
    Attila rührte drei Messlöffel Amino Competition in ein Glas Molke. Hatte ihm sein Coach empfohlen. Das Zeug war kurz vor Doping. Unmittelbar nach der Belastung eingenommen, konnte man den Muskeln beim Wachsen zuschauen.

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