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Der Vollzeitmann

Titel: Der Vollzeitmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Achim Achilles
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weggrinste. Und Attila musste den Job holen; also blieb das Thema Personalanpassung erst einmal unangetastet. Attila konnte sich auf die Arbeit nicht konzentrieren. Obwohl er sich immer wieder zur Ordnung rief, hatte ihn eine völlig ungewohnte Bleiernis befallen. Er hatte sogar die Lust am Blackberry verloren, den er seit Jahren praktisch im Minutentakt checkte.
    Viel spannender erschien ihm seine eigene Wohnung. Attila stöberte auf Camilles Schreibtisch, ohne jedoch Interessantes zu finden. Dieser ganze Esoterik-Quatsch interessierte ihn kaum, aber störte auch nicht weiter: Hauptsache, Camille war beschäftigt.
    Wie von einer unheimlichen Macht gezogen, fand sich Attila plötzlich vor ihrer Wäschekommode wieder. Vorsichtig, als sei eine Alarmanlage montiert, zog er die oberste Schublade auf. Mit beiden Händen grub er in den luftigen Slips, deren Preis in einem irrationalen Missverhältnis zur Textilmenge stand. Attila nahm ein besonders knappes schwarzes Exemplar und schnupperte wie ein Wolf daran. Er spürte, dass er sich dringend hinlegen musste.

12 UHR

    Das Telefon klingelte. Mutter war dran. »Ach, Junge«, sagte sie zur Begrüßung, »ach, Junge«. Jochen ahnte, dass eine teils geklagte, teils geheulte Tirade kommen würde, er wusste allerdings nicht, warum. »Ach, Junge«, sagte sie noch einmal.

    »Guten Morgen, liebe Mutter«, erwiderte Jochen betont gut gelaunt.
    Ewige Pause.
    »Dein Bruder hat gestern sogar Blumen geschickt«, presste sie hervor.
    Gestern? Was war gestern?
    »Ich, ääh«, sagte Jochen, um Zeit zu gewinnen.
    »Gestern war Papas Todestag«, heulte sie.
    »Ooh, ja, klar«, sagte Jochen.
    Er hatte wieder einmal den Todestag seines Vaters verpennt, während sein Bruder, der alte Erbschleicher, mit Fleurop -Gestrüpp aufgetrumpft hatte.
    »Aber ich habe viel an dich gedacht«, log Jochen.
    Er wusste, dass er nicht sehr überzeugend klang.
    »Papa sieht alles von da oben«, sagte seine Mutter, immer noch heulend und anklagend.
    Außer Power-Trauern hatte sie in den letzten drei Jahrzehnten noch eine zweite Disziplin zur Perfektion getrieben: Sie konnte anderen Menschen in Rekordzeit ein schlechtes Gewissen bereiten.
    Jochen versuchte verzweifelt, sich nicht schlecht zu fühlen. Einerseits sah er sich gezwungen, jene Gefühle seiner Mutter zu respektieren, mit denen sie ihr Leben seit den Achtzigerjahren gestaltete. Andererseits ging ihm das ewige Gegreine gehörig auf die Nerven. Weil sie keinen Neustart mehr wagte, hatte sich seine Mutter in der Witwenrolle eingerichtet, die insofern praktisch war, als alle Rücksicht zu nehmen hatten auf die arme Frau, die ihren lieben Mann verloren hatte. Die Verklärung seines alten Herrn zu einem Heiligen war durch sein gelebtes Leben allerdings nicht gedeckt. Sein Vater war bestenfalls okay gewesen, kein Zocker, kein Tyrann, kein Dogmatiker - immerhin ja schon mal was.

    Jochen erinnerte sich daran, dass seine Eltern sich wegen jedem Mist gezofft hatten, dass er bei jedem kleinen Vergehen vorwurfsvoll angeschwiegen wurde, dass der Satz »Was sollen denn die Nachbarn denken« ihr Leben bestimmte. Am schlimmsten war, dass er diesen Satz so verinnerlicht hatte, dass er bei Julias Gebrüll zuallererst dachte: Was sollen denn die Nachbarn denken?
    »Warst du auf dem Friedhof?«, fragte Jochen und hasste sich im gleichen Moment für diese kreuzdämliche Frage. Natürlich war seine Mutter auf dem Friedhof gewesen.
    Immerhin bewegte sie das Thema: »Das Grab musste ja auch frisch bepflanzt werden«, sprudelte sie los, »ich habe ein paar Bodendecker gekauft, die waren im Angebot, dann sieht das Grab auch im Herbst noch grün aus. Und ein paar Stiefmütterchen, die mochte Papa doch immer so gern.« Jochen war erleichtert, ein Gesprächsthema gefunden zu haben, das für eine Weile ohne Vorwürfe und Tränen auskam.
    Jochens Handy klingelte. Ach du Scheiße. Warum ausgerechnet jetzt?
    »Äh, Mutter«, sagte Jochen, während die alte Dame über die Feinheiten der Grabgestaltung unter Berücksichtigung von Jahreszeiten referierte. Sie klang, als hätte sie noch Luft. Jochen sagte nur: »Ja, das stimmt«, und beschloss, sie einfach weiterreden zu lassen, während er ans Handy ging. Die Nummer kam ihm bekannt vor.
    »Hallo«, meldete sich Jochen.
    »Ach, schön, dass ich Sie gleich dranhabe …« - es war der Programmchef vom Offenen Kanal.
    Jochen riss innerlich die Arme triumphierend in die Luft. Wahrscheinlich sollte Beyond Cool einen besseren Sendeplatz

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