Der Vollzeitmann
bekommen. Oder ein richtiger Sender hatte Interesse am Format bekundet.
»Ja?«, sagte Jochen erwartungsvoll und legte den Hörer mit seiner Mutter beiseite, aus dem er beruhigendes Friedhofsgärtnergemurmel hörte.
»Nun, Herr Heine, es hat im Programmbeirat ein paar Irritationen gegeben wegen Ihrer Sendung, deswegen haben wir eine außerplanmäßige Redaktionskonferenz anberaumt. Können Sie heute um achtzehn Uhr im Sender sein?«
Jochen schluckte. »Programmbeirat?«, fragte er. Von diesem Gremium hatte er noch nie gehört.
»Jeder Sender hat ein Kontrollgremium, das darauf achtet, dass die Inhalte unseren ethischen Normen genügen: Rassismus und so«, belehrte ihn der Programmchef, »und unsere Frauenbeauftragte Frau Dr. Bohnsack-Oppenheim hatte wohl ein paar Probleme mit Ihren Moderationen - das muss nichts Ernstes bedeuten. Aber es kann.«
Jochen schwitzte. Wer war Frau Bohnsack-Oppenheim? Was hatte sie mit seiner Sendung zu tun? Was verstand sie von Radio? Beyond Cool war gar nicht für Frauenbeauftragte gemacht, im Gegenteil: Es war eine Sendung, die ausdrücklich verboten war für die Bohnsack-Oppenheims dieser Welt.
»Sie sollten auf jeden Fall heute kommen, um Missverständnisse auszuräumen«, sagte der Programmchef. »Jochen!«, hörte Jochen von Ferne eine aufgebrachte Stimme, »Jooochen …!« Er sah den Hörer auf dem Tisch. »Ja, Mutter, einen Moment bitte«, sagte er und hörte noch, wie sie giftete: »Kannst du nicht wenigstens …«
Jochen sprach wieder ins Handy: »Klar, ich werde da sein. Sind Sie auch da?«
»Ja«, erwiderte der Programmchef, »aber ich weiß nicht, ob ich Sie gegen Frau Dr. Bohnsack-Oppenheim verteidigen kann.«
Jochen fröstelte.
»Ja, Mutter«, sagte er dann in den anderen Hörer. Aber seine Mutter hatte bereits aufgelegt.
Jochen startete »Atom Heart Mother«. Zeit für große Gefühle. Danach würde er seine Mutter noch mal in Ruhe anrufen. Oder morgen.
Als Attila aufwachte, wunderte er sich, dass er Camilles Slip über dem Kopf trug. Zuerst schämte er sich ein bisschen. Dann genoss er den transparenten Hauch vor Mund und Nase und sog die Luft tief ein. War da eine letzte kleine Spur von Aroma? Ich sollte öfter mal einen Tag zu Hause bleiben, dachte er, während er nach seinem Blackberry suchte.
Norbert nölte, als Martin ihn in die kotdichte Gummibadehose zwängte. Dorothea hatte diese Spezial-Shorts extra aus den USA kommen lassen, Marke Sweet Little Dolphin . Die Elastikbuxen waren in einem wasserpädagogischen Zentrum in Orlando entwickelt worden, hermetische Abdichtung für hochbegabte Babys, die zur Steigerung ihrer Sozialkompetenz mit Delfinen schwammen. Kinderkacke fand Flipper wohl nicht so dufte.
Jedenfalls war Martin sicher, dass Norbert als einziges Kind mit Sweet Little Dolphin antreten würde. Gerade bei den Super-Eltern, die mit ihren Babys zum integrativen Frühschwimmen gingen, konnte man gar nicht aufmerksam genug die richtigen Labels präsentieren, die maximalen Preis und mithin übermenschliche elterliche Fürsorge signalisierten.
Leider paddelten vier von neun Kindern in Sweet Little
Dolphin . Es war also wie immer: Der immense Individualitätsdruck führte dazu, dass alle Babys nahezu gleich aussahen, so wie ihre Eltern auch: Die Mütter liefen rum wie Elfriede Tetzlaff oder Kampflesben, die Väter trugen Wim-Wenders-Brille, verteidigten ihre Rest-Männlichkeit auf dem Felde des Spezialwissens (Comics, iPhone -Apps, Pink Floyd ) und trugen die Riemen ihrer Filz-Leder-Taschen quer über der Brust, weil das nach Fahrradkurier aussah. Wer noch mit Lastwagenplanentaschen erwischt wurde, mit Ohrstöpseln oder Klamotten von Stella McCartney, der konnte gleich an den Stadtrand ziehen. Martin hätte gern einen Essay über Markenterror und Individualitätswahn für seinen Blog geschrieben, den er für die Dauer seiner Elternzeit mit einem großen Baustellenschild stillgelegt hatte. Aber sein Chef hatte ihm davon abgeraten. Das sei das falsche Signal an die Kunden.
Die Schwimmwindel von Sweet Little Dolphin hatte er jedenfalls mehrfach mit aggressivem Oxy-Waschmittel und viel zu heiß gewaschen, Öko hin oder her. Wenn schon alle die gleiche Hose trugen, sollte Norberts wenigstens am ältesten aussehen. »Die haben wir vor zwei Jahren aus Florida mitgebracht«, war auch kein schlechter Satz, um sich gegen die ganzen übermotivierten Mütter zu behaupten, die ihm und Norbert die Schwimmstunde mal wieder zur Hölle machen würden.
Von
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