Der Vollzeitmann
gespeichert? Und wann? Und warum? Die Scham legt sich um seinen Hals wie eine eiserne Kette. Ich bin das Allerletzte, dachte Lars, ich bin ein vierzig Jahre alter Volltrottel. Wenn er richtig überlegte, eigentlich schon fast einundvierzig. Daran wollte er jetzt nicht denken, der Rest war hart genug.
Jasmin! Ausgerechnet seine Assistentin. Die mit den bauchfreien Tops über den strammen Brüsten. Lars spürte eine aufkommende Erektion. Er ignorierte sie. Er wollte sich strafen. Er musste sein Leben ändern. Heute noch. Diesmal aber wirklich. Sonst würde er hier noch mit fünfzig so würdelos
herumliegen, in einem verlassenen Industriegebiet, wo ihn niemand jemals finden würde, wenn er genau jetzt röchelnd starb, weil der Infarkt ihn erwischt hatte, ausgerechnet ihn, den Unverwundbaren.
Soeben hatte Jochen beschlossen, die Schicht für heute zu beenden. Mit einer Cola light und einer Tasse Milchkaffee hatte er es fast zweieinhalb Stunden im Café ausgehalten. Aber kein einziger Kunde hatte angebissen. Dafür war der Kellner alle drei Minuten gekommen und hatte gefragt, ob’s denn noch etwas sein dürfte.
Der Popper war lange wieder verschwunden; er hatte sich mit einem anderen Popper weithin hörbar über Golf unterhalten. Auf der Liste der überflüssigsten Themen auf der ganzen Welt kämpfte Golf gegen Konjunkturprognosen und Hühneraugenpflaster um die Spitzenplätze.
Der schräge Typ, dessen Frau er heute Morgen die Diebstahlgeschichte aufgetischt hatte, war vorbeigekommen, um sein Portemonnaie abzuholen, und hatte ihm noch zwanzig Euro in die Hand gedrückt. Korrekt. So war er heute wenigstens zu etwas Kohle gekommen.
Just in dem Moment, da er endlich aufstehen wollte, nachdem er ein letztes Mal die Chancen für Blickkontakte ringsum gecheckt hatte, klingelte Jochens Handy. Bretti war dran. Jochen mühte sich, seine Freude zu unterdrücken, und gab sich betont cool. Bretti wollte heute Abend mit ihm reden. Offenbar hatte er doch noch so etwas wie ein Gewissen. Jochen tat so, als ob er eigentlich gar keine Zeit hätte. Er murmelte etwas von »neuen Mitbewohnern«, um Bretti zu verletzen.
Gerade als Bretti ungehalten wurde und »Red doch nicht
so’n Scheiß …« sagte, da kam ein weiterer Anruf. Jochen erkannte im Display die Nummer seiner Mutter. Verdammt. Er hätte die alte Dame längst zurückrufen müssen. »Wart mal’ne Sekunde«, rief er in Brettis Tirade und wechselte zum anderen Gespräch. »Ja, hallo, Mutter, ich wollte dich auch noch anrufen, aber ich habe gerade einen Kunden in der anderen Leitung«, sagte Jochen. Seine Mutter sagte nur: »Ja, ja, immer gehen andere vor« und schwieg dann eine ihrer endlosen Pausen. Im Hintergrund hörte er den Fernseher laufen, wahrscheinlich ein hirnloser Verkaufskanal, der zeltartige Morgenmäntel anbot.
Jochen graute bei der Vorstellung, dass seine Mutter zu den Frauen gehörte, die in die Live-Show hinein anriefen und sich in Begeisterungsschreien über die sensationelle Qualität von Plastikwäsche ergingen, nur um auch mal ins Fernsehen zu kommen.
Jochen verfluchte sich. Warum war er überhaupt drangegangen. »Ich ruf’ dich gleich noch mal in Ruhe an«, sagte er und brachte es tatsächlich fertig aufzulegen. Er hörte noch ein weiteres »Ja, ja« seiner Mutter. Jochen wechselte die Leitung. »Bretti?« Doch Bretti hatte aufgelegt. Jochen tippte eine SMS: »Bin ab 21h da. Aber ohne Weiber.« Bretti antwortete umgehend mit »ok«.
Jochen überlegte, ob er jetzt sofort seine Mutter anrufen sollte. Aber das war unglaubwürdig. Ein erfolgreiches Kundengespräch dauerte länger. Jochen fragte sich, was seine Mutter genau in diesem Moment wohl machte. Sie hockte allein in ihrem düsteren Reihenhaus, so wie fast immer seit dreißig Jahren. Entweder hatte sie sich vor den Fernseher gesetzt. Oder sie saß in der Küche, blickte trübsinnig aus dem Fenster in der Hoffnung, dass jemand vorbeikäme und überlegte, welche ihrer vielen Pillen sie denn jetzt mal nehmen könnte.
Manchmal hatte Jochen das komische Gefühl, Akteur einer gigantischen Inszenierung zu sein, der Einzige allerdings, der nichts davon wusste. Vielleicht war seine Mutter nur eine Schauspielerin, die ihn absichtlich in Konflikte stürzte, vielleicht war auch Bretti gar nicht Bretti, sondern ebenfalls ein Darsteller genauso wie der Popper, der Kellner, Frau Kackdie-Wandan vom Radio und alles wurde abends zur besten Sendezeit in einem TV-Sender übertragen, den er gar nicht
Weitere Kostenlose Bücher