Der Vollzeitmann
Frau, die er aus dem Elend geholt und zu dem gemacht hatte, was sie jetzt war: die Gattin des künftigen Chefs von Wesley . Etwas mehr Dankbarkeit war doch wohl angezeigt.
»Ich spreche natürlich heute mit Professor Schneider darüber«, erwiderte Attila förmlich und spürte zugleich eine bislang unbekannte Beklommenheit aufsteigen, die er als eine Art Angst identifizierte. Angst? Was war das? Kannte er nicht. Wollte er nicht. Hatte er nicht.
»Es gab Themen, bei denen es nicht viel zu sagen gab. Potenz, eine funktionierende Samenmaschine, Zeugungsmacht, das alles war doch eine Selbstverständlichkeit, erst recht für eine Führungskraft. Was sollte man groß darüber reden?«
Er hatte keine Probleme damit, nutzlose Mitarbeiter zu feuern, er sagte Geschäftsführern eiskalt ins Gesicht, welche Probleme sie hatten mit ihren Unternehmen - aber der Gedanke an ein Schwanzgespräch machte ihm dann doch ernste Sorgen.
Es gab Themen, bei denen es nicht viel zu sagen gab. Potenz, eine funktionierende Samenmaschine, Zeugungsmacht, das alles war doch eine Selbstverständlichkeit, erst recht für eine Führungskraft. Was sollte man groß darüber reden? Diese ewige Quatscherei war auch so eine Frauenerfindung.
Martin war am Schreibtisch eingenickt. Vor ihm, auf feinem Papier, der Entwurf zum Vorwort seines ersten Buches. Jeden Tag feilte Martin daran. Zufrieden war er allerdings noch immer nicht. »Lange hatte Darwin recht: Die Evolution schien ein unaufhaltsamer Prozess der kontinuierlichen Qualitätsverbesserung zu sein. Das eherne Gesetz des Fortschritts lautete: Das Bessere ist der Feind des Guten. Ob bei Gänseblümchen, Fruchtfliegen oder Nasenbären - stets galt: Starke Eltern zeugen noch stärkere Kinder.
»Die Spannung zwischen Männchen und Weibchen, die bislang die Fortpflanzung sicherte, ist einer ziellosen Kopulation gewichen, der jede evolutionäre Logik fehlt.«
Doch der Mensch hat diesen ebenso brutalen wie segensreichen Mechanismus nicht nur außer Kraft gesetzt, sondern sogar umgekehrt, wie dieses Buch anhand eindrucksvoller Belege aus allen Disziplinen der Wissenschaft belegt. Fakt ist: Die Evolution läuft inzwischen rückwärts.Aus Darwins Treppe zur ewigen Verbesserung wird die NIWRAD-Spirale, die unerbittlich nach unten weist. Die Menschheit entwickelt sich unaufhaltsam zurück. Die Spannung zwischen Männchen und Weibchen, die bislang die Fortpflanzung sicherte, ist einer ziellosen Kopulation gewichen, der jede evolutionäre Logik fehlt.
Grundlage für diese bahnbrechende Erkenntnis ist eine ebenso einfache wie erschütternde Beobachtung. In sozial
problematischen Gegenden verläuft die Reproduktion ungefähr doppelt so schnell wie in besser gestellten Vierteln. Frauen aus der Unterschicht bekommen Kinder mit Anfang zwanzig, in zwei Jahrhunderten wachsen also acht Generationen nach. Hoch gebildete Frauen dagegen bekommen ihr erstes Kind immer später, oft erst mit vierzig. In zwei Jahrhunderten wachsen also nur fünf Generationen nach. Soziale Brennpunkte weisen gleichsam im Zeitraffer auf die Gesellschaft der Zukunft hin: Das über Jahrhunderte ausdifferenzierte Rollenspiel zwischen Mann und Frau, aber auch die klare Aufgabenzuweisung an Mutter und Vater findet hier kaum noch statt. Frauen sehen aus und reden wie Männer und umgekehrt: Alle haben Brüste und Bauch, Tätowierungen und Fremdenlegionärsfrisur, sind abhängig von Alkohol oder Drogen und verbringen den Tag im Dreieck von Sozialamt, Discounter und Fernseher. Sie vermehren sich ungehemmt, wobei völlig gleichgültig ist, unter wessen Regime die Kinder verwahrlosen. Erziehungsinstanzen sind Internet und Ghetto-Gang.
Da eine soziale Durchmischung der Eltern kaum noch stattfindet, wird die Diktatur der Massen unausweichlich kommen. Die Eliten unseres Landes dezimieren sich zugleich selbst und werden ihren Einfluss in einer Aufregungsdemokratie immer weniger durchsetzen können.
Die rapide wachsende gesellschaftliche Mehrheit ist geprägt von unzureichender Bildung, unklarer Verantwortung und zerfallenden Rollenbildern. Der Mehrheitsdruck wächst unaufhörlich, zugleich schrumpfen die Eliten. Die NIWRAD-Spirale hinterlässt eine vormoderne Gesellschaft, die mit demokratischen Spielregeln nicht mehr zu organisieren ist. Die Menschen werden sich in archaischen Strukturen organisieren, vom Stamm bis zur Herde; es zählt das Recht des Stärkeren.«
Rumms. Das war mal ein Auftakt. Jetzt fehlte nur noch der Rest vom Buch.
Martin war
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