Der Vollzeitmann
Aber kreuzunglücklich war er trotzdem.
Maik drehte die Dusche eine Spur kühler. Seine Haut war rot und heiß. Er stand nackt vor dem beschlagenen Spiegel, atmete ruhig und kühlte einfach nur ab. Von unten rief Ulrike.
Stoisch hatte Attila alle Tests über sich ergehen lassen, das Ergometer zum Glühen gebracht und sich jetzt, nur mit einer seidenen Boxershorts bekleidet, auf den Behandlungstisch gelegt. An den Wänden hingen Schläuche, Kabel und andere Gerätschaften, mit denen man locker auch ein SM-Studio, einen Schlachthof oder beides betreiben könnte. Atilla atmete tief und versuchte, das Denken einfach abzustellen.
Die Assistentin des Professors näherte sich ihm von hinten. Attilas Atem stockte. Doch sie bat ihn nur, das Hinterteil kurz anzuheben. Sie schob ihm eine saugfähige Unterlage unter die Körpermitte.
Attila gab sich alle Mühe, sich nicht vorzustellen, was gleich passieren würde. Am allerwenigsten mochte er sich die Kommentare ausmalen.
Vor ihm erschien der Professor. Er hielt eine Spritze in der Hand und suchte in Attilas Unterarm nach der Vene. Ohne Vorwarnung stach er zu.
»So, und jetzt wird ein bisschen geschlafen. Zählen Sie doch mal bitte bis zehn.«
Bei »zwei« gab Attila auf.
Dem fortdauernden Vibrieren in seiner Hosentasche nach zu urteilen, drehte Dorothea gerade komplett durch. Leider hatte das Brainstorming zwei goldene Regeln. Erstens: striktes Handy-Verbot. Zweitens: Wer mitmacht, muss auch bis zum Schluss bleiben. In einer guten Stunde würde Dorothea mit Holtkötter anrücken. Und zwei Mietkräfte, ein Tscheche und eine Chinesin, waren mit Kindern und Dinner allein zu Hause. Die Dachterrasse war auch noch nicht fertig. Immerhin hatte er schon mal drei Flaschen Rotwein aufgemacht, die jetzt im Auto atmeten.
Martin hätte vielleicht doch auf das Brainstorming verzichten sollen. Denn ein Ende der Vorträge und der nachfolgenden Debatten war nicht in Sicht. Martin hatte seinen Plan längst aufgegeben, zu NIWRAD vorzutragen. Viel wichtiger war es, dass er unter Berücksichtigung der beiden goldenen Regeln einen eleganten Abschied würde hinlegen können. Wie peinlich wäre es, wenn ausgerechnet
er als Erster gehen würde. Das Dumme war, dass er jetzt auch nicht mit den üblichen Eltern-Stories von kotzenden Kindern kommen könnte. Wer aus der Elternzeit eigens ins Büro kommt, kann nicht andererseits seine Elternschaft im Bedarfsfall vorschieben.
In der kurzen Pause verzog er sich aufs Klo, um sein iPhone zu checken. Der Empfang war eine Katastrophe, genügte aber immer noch, um ein eindrucksvolles Bild von Dorotheas Stimmung wiederzugeben. Sie hatte zweimal angerufen und vier SMS geschickt, außer sich vor Wut. Wahrscheinlich versemmelte sie ihre Sendung heute auch noch, worüber sich Holtkötter den ganzen Abend amüsieren würde. Ihre Chancen auf ein neues Format wären jedenfalls dahin. Und er war schuld. Martin hatte noch mehr Angst vor Dorothea als ohnehin schon. Zum Glück hatte er wenigstens sündteuren Wein gekauft.
»Warum sabotierst du meine Karriere?«, war ihre letzte Nachricht gewesen.
Wie alle Frauen hatte auch Dorothea das Talent, jeden Allerweltsvorgang zu einer weiteren Schlacht im ewigen Geschlechterkrieg umzudeuten.
Je länger Jochen über das merkwürdige Treffen im Sender nachdachte, desto stolzer wurde er. Er war ein echter Rebell, er hatte nicht klein beigegeben, nicht widerrufen, sich nicht mal entschuldigt. Wofür auch? Hätte Robin Hood sich entschuldigt, Klaus Störtebeker, Paul Breitner? Niemals.
Alles war perfekt. Seine Radio-Karriere begann mit einer Widerstandsgeschichte. Jochen spürte, dass dieser Tag etwas Besonderes war, tatsächlich ein Neuanfang nach all den Jahren, die er einfach nur so vor sich hingelebt hatte.
Vielleicht war ja doch was dran an diesen Karma-Geschichten. Jochen hatte ein weitgehend sündenfreies Leben geführt, er hatte diesen Poncho-Heinis mit der Panflöte immer ein paar Cent in ihre Strickmützen gelegt, er warf Dosen und Pfandflaschen grundsätzlich in öffentliche Mülleimer, die gut zugänglich waren, damit sich die armen Menschen freuten, die ihren Tag damit verbrachten, Leergut zu angeln. In Wirklichkeit war Jochen nur vorauseilend sozial. Im tiefsten Inneren hatte er fürchterliche Angst, eines Tages ebenfalls mit großen Plastiktüten durch die U-Bahnhöfe zu ziehen und Pfandflaschen zu angeln, um sein karges Hartz-Geld aufzubessern. Weit war er davon nicht mehr entfernt. Und er würde jeden
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